Buch des Todes
gewisser Weise aber war das Johannesbuch einzig in seiner Art. Pater Johannes beschrieb an mehreren Stellen Menschen, die an den verschiedensten Krankheiten litten. Wenn es um Themen wie Anatomie, Krankenpflege und Chirurgie ging, über traf das Johannesbuch die meisten anderen Aufzeichnungen dieser Zeit bei Weitem. Für den nördlichen Bereich Europas war es einzigartig. Die meisten Forscher waren der Auffassung, dass Pater Johannes an einer der Universitäten im Süden Europas studiert hatte.
Vatten erinnerte sich vage daran, dass er den Eindruck gehabt hatte, Gunn Brita hätte dieses Buch gründlicher gelesen als die meisten anderen, und dass sie etwas entdeckt hatte, das sie ihm nicht verraten wollte. Doch bevor er sie genauer dazu hatte befragen können, hatte sie das Thema gewechselt und gesagt, wie schade es doch sei, dass sie beide sich nicht schon früher besser kennengelernt hätten, und dass es ihr deshalb jetzt noch schwerer fiele, wegzugehen.
Er hatte die letzten Tropfen aus der »weltbesten Mama« getrunken, und sie waren beide zu dem Schluss gekommen, dass er den Wein wohl doch recht gut vertrage und das Experiment demnach geglückt sei. Um das zu feiern, hatte sie den Rest der Flasche auf die beiden leeren Tassen verteilt. Er hatte noch einen weiteren Schluck geschafft, bevor alles schwarz geworden war.
Danach bestand seine Erinnerung nur noch aus vage vorbeiflimmernden Bruchstücken. Der hässliche Fußboden, Gunn Britas Bluse und Hände, die auf Abwegen waren. Auch tauchten einzelne Streiflichter auf, er im Innern des Sicherheitstraktes, obwohl er doch eigentlich enge Räume hasste. Zu guter Letzt kam ihm die Erinnerung an einen hochgeklappten Klodeckel und den sauren Geschmack von Erbrochenem.
Der Rest bestand aus übelsten Kopfschmerzen.
Er sah auf die Uhr. Es war beinahe elf.Aus dem Datum entnahm er, dass noch immer Samstag war.Also war es Abend und nicht Vormittag. Er brauchte eine Ewigkeit, um endlich aus dem Sessel hochzukommen.Als er auf den Beinen war, geriet er ins Schwanken und spürte erneut die Übelkeit. Mit an Panik grenzender Unruhe ging er zum Fahrstuhl und fuhr nach unten ins Erdgeschoss. Er ging direkt in den Verwaltungstrakt. Zu seiner großen Erleichterung stellte er fest, dass alles war, wie es sein sollte. Jemand, vermutlich Gunn Brita, hatte die Weinflasche und die Tassen weggeräumt.Auch mögliche Weinflecken waren beseitigt worden. Er stellte überdies fest, dass der Sicherheitstrakt abgeschlossen war, wobei er nicht wusste, ob er darüber erleichtert oder besorgt sein sollte. Er konnte den Trakt nicht öffnen, da er dafür zwei unterschiedliche Codes brauchte, von denen er selbst aber nur einen hatte. Den anderen Code hatte sein Chef, Hornemann, sowie eine damit betraute Bibliothekarin. Das war bislang Gunn Brita gewesen, und laut Plan sollte der Code Montag geändert werden, da sie ja die Stellung wechselte.Alles aus sicherheitstechnischen Gründen und streng nach Routine. Er konnte also nichts anderes tun, als darauf zu hoffen, dass auch im Sicherheitstrakt alles in Ordnung war und die Erinnerung, dass er sich dort drinnen befunden hatte, nicht der Wahrheit entsprach.
Jetzt atmete Vatten leichter. Er ging in sein Büro, setzte sich an seinen Schreibtisch und warf einen Blick auf den Bildschirm, der mit den Überwachungskameras verbunden war. Er war ausgestellt. Neben dem Monitor stand ein DVD-Brenner, der die aufgenommenen Filme speicherte. Er nahm die DVD heraus, die sich darin befand, und legte eine neue ein. Die DVD nahm er mit und steckte sie in die Tasche seiner Regenjacke. Auch im Sicherheitstrakt befand sich eine Kamera. Er wollte aber gar nicht genau wissen, was da vor sich gegangen war – die vage Ahnung reichte ihm schon.
Er holte sein Fahrrad und fuhr durch die feuchtfröhliche Stimmung des Trondheimer Samstagabends. Hatte Gunn Brita ihm nicht versprochen, ihn nach Hause zu bringen? Da war es aber schon irgendwie seltsam, dass sie einfach so verschwunden war. Dann kam ihm wieder in den Sinn, dass sie im Poe-Museum in Richmond gewesen war. Kein typischer Ort, an den norwegische Touristen sich verirrten. Lag es daran, dass es ein so absurdes Zusammentreffen war, dass er ihr nicht erzählt hatte, dass er ebenfalls in diesem Sommer dort gewesen war?
Auf dem Weg über die alte Stadtbrücke hielt er kurz an, nahm die DVD aus der Tasche seines Regenmantels und warf sie in den Fluss. Dann fuhr er nach Hause und legte sich ins gemachte Bett.
6
Richmond,
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