Buch des Todes
Katze die ganze Zeit, konnte aber nichts tun, um sie zu retten. Er sah, wie sie immer weiter abtrieb und ihr Kopf immer häufiger untertauchte.An der Flussmündung tauchte sie in den weißen Schaum ein, wo Süß- und Salzwasser sich mischten. Dort sah er sie zum letzten Mal, bevor sie für immer verschwand. Er setzte sich in das Gras an der Flussmündung. Er war damals sieben Sommer alt. Mit wem sollte er jetzt nachts schlafen oder gemeinsam wach liegen und den grölenden Män nern lauschen, die seine Mutter in ihrem Bett nebenan besuchten und ihnen Geld für das Essen auf den Tisch legten? Jetzt gab es niemanden mehr, mit dem er sich sein Essen teilen konnte oder der ihm um die Beine strich, wenn er abends nach einem langen Tag auf der Straße oder in der Schmiede nach Hause kam. Johan, der Schmied, war Mutters Freund, er legte sich zwar nie zu ihr ins Bett, gab ihm, ihrem Jungen, aber Arbeit, wenn es in der Schmiede viel zu tun gab.
»Das war dumm«, sagte er laut zu sich selbst, aber seine Augen blieben trocken.
»Ich habe dich schon mal gesehen«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Bei den Lagerhäusern in der Stadt.«
Er zuckte zusammen. Schwang herum. Hasste es, überrascht zu werden. Er fühlte sich dann so klein. Ein Mann mit üppigem dunklem Bart und grünen, klaren Augen stand hinter ihm. Er trug einen blauen wollenen Umhang. Darunter war er vornehm gekleidet. Saubere Sachen aus Leinen. Die Spange, die den Umhang zusammenhielt, verriet, dass er wohlhabend war. Er sah müde aus, als hätte die Müdigkeit sich in seine Gesichtszüge geschnitten.
»Das ist nicht so gelaufen, wie du gedacht hast, nicht wahr?«, fragte der Mann.
Er schüttelte langsam den Kopf. Blickte über den Fjord. Das Wasser war heute dunkel.Vielleicht würde es Regen geben.
»Im Himmel wirst du sie wiedersehen«, sagte der Mann.
»Kommen Tiere in den Himmel?«, fragte der Junge erstaunt und sah dem Mann zum ersten Mal in die Augen. Das tat er sonst nie. Nicht einmal bei dem Schmied. Was er eigentlich fragen wollte, war: Komme ich denn in den Himmel?
»Geliebte Tiere kommen dorthin«, sagte der Mann. Er beugte sich vor und legte ihm die Hand auf den Kopf.
»Habe ich sie denn geliebt?«
»Etwa nicht?«
»Ich weiß es nicht.« Der Junge ließ seinen Blick wieder über den Fjord bis zu dem Kloster in der Ferne schweifen, das er jeden Tag durch das Fenster des Schmiedes sah, das aber in einer anderen, friedlicheren Welt als der seinen lag.
»Ich glaube, du hast sie geliebt«, sagte der Mann. »Und ich glaube, du hast etwas daraus gelernt. Denk dran, die Art, wie man Tiere behandelt, sagt viel darüber aus, was für ein Mann man ist.«
Der Mann mit dem feinen Umhang sah in ihm einen Mann und nicht das Kind wie Mutter und der Schmied. Er hatte lange darauf gewartet, dass es endlich jemand merken würde. Er war ein Mann.
»Komm mit mir«, sagte der Mann. »Ich spendiere dir ein Bier.«
Der Barbier blieb zwei Winter in Trondheim. Er unternahm ein paar Versuche, einen Raum zu finden, in dem er seinem Gewerbe nachgehen konnte, fand aber keinen zu einem angemessenen Preis und auch keine Witwe, die er heiraten konnte.Aber er machte auch nicht den Eindruck, als hätte er es wirklich mit Nachdruck versucht. Nach dem Verkauf eines Hauses in Bergen verfügte er über ausreichend Geld und konnte seine Zeit nutzen, wie er wollte.
In der Regel las er Bücher in der Schule, mit deren Rektor er gut auskam, spendierte den Lateinschülern Bier und Essen und ging weiter oben am Fluss zum Angeln.Wohnen tat er bei seinem Zunftbruder Hans, dem Barbier, und je mehr Zeit verging, desto besser freundete er sich mit der Mutter des Jungen an. Nach einer Weile stand immer häufiger Essen auf dem Tisch, und schon im ersten Herbst, den der Barbier in der Stadt war, sorgte er dafür, dass der Junge auf die Lateinschule gehen konnte.Auch die Mutter brauchte die kleine Gruppe Handwerker nicht mehr zu empfangen, die sie bisher am Leben erhalten hatten. Später konnten sie sogar bei Ingierd Matsdatter einziehen, der Witwe von Oddmund, dem Zimmerer, einem aufbrausenden Gesellen, den die Menschen nur Oddmund mit dem Hammer genannt hatten und den kaum jemand und ganz sicher Ingierd nicht vermisste.
Nach zwei Jahren gab es für den Barbier weder in der Schule noch auf dem Hof von Erzbischof Erik Bücher, die er noch lesen konnte, sodass er zunehmend unruhig wurde. Der Junge bemerkte das als Erster, doch seine Mutter sprach es eines Abends offen an, als der Barbier zum
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