Buch des Todes
habe gestern mit Hedda gesprochen«, sagte ihre Mutter mit dem unfreiwillig vorwurfsvollen Unterton, der ihn immer so irritierte. »Sie hat gesagt, sie wollte heute zu Hause bleiben, um Edvards Kostüm für das Schulkonzert nächste Woche zu nähen.«
»Merkwürdig«, sagte Vatten. »Das dachte ich auch.«
Nach einigen ergebnislosen Telefonaten mit Freunden und Heddas Arbeitskollegen war er überzeugt, dass etwas passiert war. Um 21.30 Uhr rief er die Polizei an. Um diese Zeit hätte Edvard schon eine Stunde schlafen sollen, aber er hatte noch immer keine Lebenszeichen von seinen beiden Lieben erhalten.
Auf der Polizeiwache informierten sie ihn, dass sie nichts unternehmen würden, wenn die Vermissten erst so kurz fort seien, und versuchten ihn damit zu beruhigen, dass sich Fälle wie dieser in der Regel von selber lösten. Seine Frau und sein Sohn würden sicher bald mit einer mehr oder weniger guten Entschuldigung auftauchen. Da ein Kind involviert war und Vatten mit Nachdruck versicherte, dass so etwas bei ihnen nicht üblich sei, wurde schließlich doch ein Beamter an den Fall gesetzt.
Dieser Beamte kam gegen 22.15 Uhr zu ihm. Er trug Uniform.Als Vatten sagte, Hedda und Edvard hätten noch immer nichts von sich hören lassen, wirkte er überrascht. Sie setzten sich in die Küche und gingen alle Informationen durch, die er hatte. Der Polizist bat Vatten, noch ein paar weitere Personen anzurufen, bei denen sie sich aufhalten könnte. Dann nahmen sie noch einmal Kontakt mit all denen auf, die Vatten zuvor schon angerufen hatte, und erkundigten sich, ob Hedda und Edvard inzwischen dort aufgetaucht seien. Ergebnislos. Schließlich stand der Polizist auf und sagte: »Wir geben eine Fahndungsmeldung raus. Ich glaube noch immer, dass die Sache sich ganz von allein lösen wird – wir werden diesen Fall aber trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen.Wenn Sie morgen noch nicht wieder aufgetaucht sind, schicke ich einen Kriminaltechniker her, der im Haus nach möglichen Spuren sucht, falls es wirklich irgendeinen kriminellen Hintergrund gibt.Versuchen Sie, etwas zu schlafen. Das ist das Beste, was Sie tun können.«
Vatten blieb regungslos stehen und fragte sich, wie dieser Polizist sich das vorstellte.
Trondheim, September 2010
»Der Fall Vatten löste sich nicht von selbst, nehme ich an«, sagte Odd Singsaker und sah Gro Brattberg an, die an ihrem Schreibtisch saß und sich die Nägel feilte.
Fünf Jahre nach diesen Geschehnissen war Vatten nun wieder im Visier der Polizei. Der Polizist, der seinerzeit einen Großteil der Verhöre geführt und sehr viel Zeit in diesen Fall investiert hatte, war inzwischen am Gehirn operiert wor den und hatte lange Zeit keinen einzigen Gedanken an die Polizeiarbeit verschwendet.
»Du musst mein Gedächtnis ein bisschen auffrischen«, fügte er hinzu, ohne seine Chefin einzuweihen, dass er das alles komplett vergessen hatte.
»Nein«, sagte Brattberg und legte die Nagelfeile zur Seite. »Der Fall löste sich nicht von selbst. Dabei waren wir so sicher, dass der arme Kerl, entschuldige den Ausdruck, irgendwann zusammenbrechen und alles gestehen würde.Aber das geschah nicht, weshalb wir irgendwann keinen Ansatzpunkt mehr hatten.Wenn es einen Fall gibt, auf den die Bezeichnung spurlos verschwunden zutrifft, dann auf diesen. Hedda Vatten und der Junge – wie war noch sein Name, ach ja, Edvard – tauchten nie wieder auf. Unsere Techniker durchsuchten sein Haus, fanden aber keine Spuren, aus denen sie klug werden konnten. Es deutete nichts darauf hin, dass sie das Haus gegen ihren Willen verlassen hatten, und ganz sicher nicht unter Gewalteinwirkung. Nachdem ein Nachbar sie gegen 16.00 Uhr von der Arbeit und dem Kindergarten nach Hause hatte kommen sehen, sind sie nicht mehr gesehen worden.Weder beim Verlassen des Hauses noch an irgendeinem anderen Ort. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.«
Während Gro Brattberg redete, stiegen in Singsakers Bewusstsein weitere Erinnerungen an die Oberfläche.
Trondheim, 2005
Nach ein paar Tagen wurde Vatten immer eindringlicher verhört. Er wurde häufiger ins Präsidium zitiert, um dort befragt zu werden, und nach einer Woche galt er als Hauptverdächtiger. Sie hatten zwar noch nichts, um ihn anklagen zu können, rechneten aber damit, bald etwas zu finden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Hauptkommissar Singsaker die Verhöre übernommen.
Der Fall Vatten steckte voller Probleme, beginnend mit dem seltsamen Alibi.Wie war es möglich, dass
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