Buch des Todes
war. Irgendwann, er erinnerte sich nicht mehr an den genauen Tag, war ihm per Brief mitgeteilt worden, dass er bei der Vergabe der Unistelle nur an dritter Stelle gelandet war und nicht an erster, wie es ihm Professor Blom in einer besseren, gar nicht so lang zurückliegenden Zeit angedeutet hatte. Das Gerücht, er habe womöglich seine Familie ausgelöscht, war also bis zum Auswahlgremium vorgedrungen. Die Freunde, die er unter den Kollegen in Dragvoll gehabt hatte, meldeten sich nie mehr, und von seinen Studienfreunden wohnten die meisten in Oslo, wo er sein Diplom gemacht hatte, bevor er für die Doktorarbeit nach Trondheim gegangen war. Seine besten Freunde riefen ab und zu an, aber er wimmelte sie jedes Mal mit der Bemerkung ab, er sei nicht in der Stimmung zu reden, bis auch diese Anrufe immer seltener kamen.Vatten war Einzelkind, und seine Eltern waren beide tot. Die Tage, an denen er mit jemandem sprach, wurden über den Sommer seltener und seltener.
Vatten war nackt gewesen, als er die Tür seiner Wohnung geöffnet hatte. Er hatte die herbstliche Kälte nicht gespürt, die sich an diesem Tag von Norden her näherte, nicht wahrgenommen, wie klar die Luft war. Er schien sich in einem aus seinem Innern aufsteigenden Nebel zu bewegen.
Er taumelte ein paar Schritte über die Auffahrt und musste sich an dem Auto abstützen, das er seit Wochen nicht mehr benutzt hatte. Es war noch feucht von einem leichten Sprühregen, aber auch das spürte er nicht. Mit einer Hand auf der Kühlerhaube stand er einen Moment lang schwankend da, bevor er weitertaumelte. Langsam wie ein Schlafwandler ging er zum Gartentor und öffnete es. Dann trat er einige Schritte hinaus auf die Kirkegata, bevor er erneut unsicher stehen blieb. Er schwankte ein paar Mal vor und zurück, blickte nach oben an den grauen Himmel und kippte schließlich nach vorn, wo er mitten auf der Fahrbahn liegen blieb, bis ein Auto kam.
Der Fahrer war ein Nachbar, der von der Arbeit zurückkam. Eigentlich hatte er es eilig, er wollte zum Spiel zwischen Rosenborg und Brann im Lerkedal-Stadion. Doch als er den splitterfasernackten Mann auf der Straße liegen sah und in ihm seinen unglücklichen Nachbarn erkannte, wusste er, dass bei diesem Spiel sein Platz auf der Tribüne frei bleiben würde. Er hielt mitten auf der Straße und ging zu dem regungslosen Körper.Vatten hatte sich erbrochen. Der Auswurf bildete eine kleine Lache unter seinem Gesicht. Er fühlte seinen Puls und konnte schwach etwas spüren. Dann rief er den Krankenwagen.Während er wartete, legte erVatten in die stabile Seitenlage, wie er es vor langer Zeit beim Militär gelernt hatte, und bemerkte in diesem Moment das Pillenglas in Vattens Hand. Er nahm es ihm ab und las, was auf dem Etikett stand. Nitrazepam, ein Schlafmittel, wenn er richtig informiert war.
Trondheim, September 2010
Vielleicht wäre es das Beste gewesen, wenn sie mich damals nicht wieder auf die Beine gebracht hätten, dachte Vatten, als er wartend an die Wand starrte. In der letzten Zeit waren diese Gedanken immer seltener gekommen, und nach der Reise in die USA im letzten Sommer hatte er eigentlich geglaubt, über den Berg zu sein. Doch jetzt erschien ihm dieser Gedanke aktueller denn je.
Er verkraftete diese Scheiße nicht noch einmal. Durchdachte all das, was die Polizei nicht wusste. Sie hatten zum Beispiel keine Ahnung von der ausgewechselten DVD oder was er und Gunn Brita getan hatten. Die hatte er ja nicht einmal selbst. Die Frage war nur, was er der Polizei sagen sollte und was sie besser ohne seine Hilfe herausfand.
Und dann gab es da noch das Geheimnis, das er seit seinem missglückten Selbstmordversuch mit sich herumtrug. Hätte ihn jemand gefragt, warum er mit dem einzigen Hinweis, den er besaß, um das Verschwinden von Frau und Kind aufzuklären, nicht zur Polizei gegangen war – er hätte ihm keine Antwort geben können.
Vielleicht weil er das Vertrauen in die Polizei verloren hatte.Vermutlich hatte er Angst davor gehabt, dass sie ihm wieder nicht glaubten und stattdessen vermuteten, er habe den Brief selbst geschrieben.Vielleicht aber auch, weil er so schon genug damit zu kämpfen hatte, aus dem dunklen Abgrund mit all den Albträumen, Schweißausbrüchen und Halluzinationen herauszukommen. Posttraumatisches Stresssyndrom nannten sie das in der Østmarka-Klinik.Aber der eigentliche Grund, dass er nie damit zur Polizei gegangen war, war noch viel finsterer als alle anderen. Denn an dem Tag, an dem er den Brief
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