Buch des Todes
er einen Moment still stehen. Er starrte auf den feuchten Lehmboden. Der Geruch der Verwesung reichte bis zu ihm. Dann trat er ein und war beeindruckt von der Intensität, mit der das Sonnenlicht den ganzen Raum füllte.
Die Tote lag auf dem Tisch, mitten im Lichtschein wie eine Offenbarung. Und jetzt sah er es ganz deutlich. Sie war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.Wie verzaubert, ja, wie von Kräften geleitet, die weder in der Macht Gottes noch des Teufels standen, trat er zu ihr. Ihr Gesicht war bleicher als Papier.Wie Schnee, dachte er und erinnerte sich an die Winter oben im Norden.Weiß wie der Schnee, der jeden Winter die Städte und mit ihnen das Dunkle, Schroffe der Menschen zudeckte, war das Gesicht seiner Mutter. Und ihre Haut war kalt wie der Winter selbst. Er legte seine Hand auf ihre Wange und ließ sie über die trockene, eiskalte Haut gleiten. Über den Hals, die Brüste und den Bauch. Ganz unten waren nachtschwarze Haare, die aussahen wie das Dunkel zwischen den Bäumen im Wald. Seine Finger verharrten, und er atmete schwer. Er dachte an die Männer, die in das Bett seiner Mutter gestiegen waren, bevor der Barbier aufgetaucht war.Waren sie wiedergekommen, nachdem er gegangen war, oder hatte sie diese Männer nur seinetwegen empfangen?
Der Schatten hinter ihm glitt in seine Gedanken, wie Schlamm in kaltes, klares Wasser. Er hatte keinen Laut vernommen, war nur auf einmal auf die Schatten aufmerksam geworden, die von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien.
Die Hand des Barbiers landete wie ein Jagdfalke auf seiner Schulter. Der Junge zog seine eigene Hand augenblicklich von der Leiche weg und schaute nach oben. Die Augen des Barbiers sahen ihn an wie noch nie zuvor. Nicht einmal bei seinen besoffenen Schenkenstreitereien hatten sie so dunkel gefunkelt. Solche Bosheit und Tücke hatte der Junge nie zuvor gesehen, außer in seinen schlimmsten Albträumen. Das war der Blick eines Teufels.
Der Barbier packte ihn im Nacken, drückte zu und führte den Jungen aus dem Theater. Draußen ließ er ihn los.
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte er und warf die Tür zu.
Der Junge sackte am Boden zusammen, außerstande etwas zu fühlen.Vielleicht beschrieben die Schmerzen in seinem Nacken es am besten. Er stellte erstaunt fest, dass der finstere Blick des Barbiers ihn nicht so sehr überrascht hatte, wie er es eigentlich hätte tun sollen, denn genau so hatte er ihn sich immer vorgestellt.
Er kam auf die Beine und setzte sich auf die Bank am Teich. Kurz darauf kam Meister Alessandro oben aus dem Haus und lief an ihm vorbei, dicht gefolgt von der Schar schaulustiger Studenten, Ärzte und Adeligen. Der Meister grüßte den Jungen mit einem konzentrierten Lächeln. Der Junge nickte, erwiderte das Lächeln aber nicht.
Gleich darauf waren alle im Theater verschwunden.
Alessandros Garten war üppig und fruchtbar mit einem eige nen Gemüsebeet, einem Hühnerhaus und vielen Oliven- und Pfirsichbäumen. Das Haus am Ende des Gartens war weiß gekalkt, und zwischen dem Haus und dem Karpfenteich lag ein Schuppen, in dem die Diener ihre Werkzeuge lagerten. Um ein großes Haus und einen Garten wie diesen in Schuss zu halten, brauchte es eine Menge Werkzeuge, unter anderem eine lange Leiter.
Nachdem Alessandro und sein Gefolge im anatomischen Theater verschwunden waren, ging der Junge zum Schuppen und holte die Leiter. Sie war groß und schwer, viel größer als der schmächtige Junge, er hatte seine rechte Mühe, sie über den Pfad bis zum Theater zu ziehen. Noch schwerer fiel es ihm, die lange Leiter aufzurichten und lautlos an die Wand des Neubaus zu lehnen.Aber wenn man etwas wirklich will, dann schafft man es auch, hatte ihm der Barbier schon einige Male gesagt. Die Leiter mochte so schwer sein, wie sie wollte, sie musste nach oben. Der Blick des Barbiers hatte ihm zwar Angst gemacht, hinderte ihn aber nicht da ran, auf die Leiter zu klettern, sobald er sie aufgerichtet hatte.
Auf der letzten Sprosse stellte er sich auf die Zehenspitzen und hatte freien Einblick in das anatomische Theater.
Drinnen war die Vorstellung in vollem Gange. Diese Sektion unterschied sich von allen früheren, die der Junge mitbekommen hatte. Dieses Mal führte der Arzt selber die Mes ser. Alessandro stand über den Leichnam gebeugt da und war gerade dabei, den Bauch aufzuschneiden. Jede ordentliche Sektion begann mit einem Bauchschnitt. Der Meister nannte den Punkt unmittelbar unterhalb des Bauchnabels das Zentrum der
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