Buch des Todes
den letzten Spatenstich hörte.Auch er hatte nur ein flaches Grab bekommen. Er hörte, wie der Barbier sich auf den Karren setzte und dem Esel die Peitsche gab.
Als über ihm alles still war, begann er die Hand zu bewegen, die auf seinem Mund lag und den ärgsten Druck abgefangen hatte. Er drehte sie um und begann zu graben, wobei von oben Erde nachrutschte und auf sein Gesicht fiel. Eine plötzliche Panik überkam ihn. Er zog beim Atmen einen Erdkrümel in die Lungen, während die Erde über ihm immer stärker auf seine Brust drückte, als wollte sie alles Leben aus ihm herausquetschen.
Aber er gab nicht auf, grub weiter. Die Panik ließ ihn immer schneller und wilder arbeiten. Zum Glück war die Erde locker und die Schicht über ihm nur dünn. Erst kam die eine Hand frei, dann die andere, sodass er ein Loch für sein Gesicht freischaufeln konnte. Er begann zu husten. Erde und kleine Steinchen flogen aus seinem Mund, und die Lungen füllten sich bei jedem Atemzug gierig mit Luft. Das Prickeln und die Benommenheit verschwanden aus seinen Gliedern, und das Schwindelgefühl ebbte ab. Er fühlte sich so wach wie schon seit Langem nicht.
War das alles nur ein Traum, aus dem er erwacht war?War das keine Erde, sondern Meister Alessandros schwere Wolldecke, die da über ihm lag? Er tastete mit den Händen um sich herum. Nein, es war Erde. Das alles war wirklich geschehen.Aus heiterem Himmel war er bei dem Barbier in Ungnade gefallen, der ihn ohne jede Vorwarnung umzubringen versucht hatte. Der Junge fragte sich, was er mit der Leiche getan hatte, um diese schreckliche Wut auf sich zu ziehen.Aber er verstand es nicht. Er hatte sie doch nur berührt, sonst nichts. Er hatte sich vorgestellt, dass es seine eigene Mutter war und er sie wieder zum Leben erwecken konnte. Hätte der Barbier gewusst, wie sehr er sie vermisste, wäre er vielleicht nicht so wütend geworden. Oder doch? Das musste die Galle sein, dachte er. Eine andere Erklärung gab es nicht.
Es hatte in diesem Herbst nicht viel geregnet. Die Erde war trocken und locker, was ihn vor einem grausamen Tod bewahrt hatte. Er schaufelte die restliche Erde von seinem Oberkörper weg, und sobald das geschafft war, befreite er die Beine. Der lebendig Begrabene stand aus seinem Grab auf. Er dachte an das Lied, das der Barbier gepfiffen hatte, als sie das letzte Mal hier gewesen waren.War das eine Vorahnung gewesen, die keiner der beiden verstanden hatte, oder plante der Barbier schon länger, ihn umzubringen?
Er blieb eine Weile stehen und blickte in das Grab. Dann drehte er sich um und ging zum Weg.Als er ihn erreicht hatte, schlug er die Richtung ein, die von Padua fort führte. Er ging die ganze Nacht.An einer Kreuzung entschied er sich, nicht Richtung Venedig zu laufen, sondern ins Landesinnere. Erst in der Morgendämmerung schlief er irgendwo am Wegesrand ein. Gegen Mittag wurde er von einem Mann mit einer grauen Kutte geweckt. Der Junge hatte schon häufiger Bettelmönche wie ihn auf den Wegen gesehen, und wusste, was das für Menschen waren.
»Du siehst aus, als wärest du weit von zu Hause weg«, sagte der Mönch und sah ihn mit sorgenvollen und doch munteren Augen an.
Teil 3
Skalpell
»Das Zentrum des Universums ist überall und sein Umkreis nirgends.«
Giordano Bruno, 1584
23
Trondheim, September 2010
O dd Singsaker war nach seiner Begegnung mit Siri Holm gerade wieder zurück in seinem Büro, als Felicia Stone anrief.
Auf dem Weg von der Straße nach oben in sein Büro hatte er den Leuten, die ihm entgegengekommen waren, nur zugenickt und mit niemandem geredet. Doch in seinem Kopf lief ein nicht enden wollender, verwirrender Dialog ab. Er hatte soeben eine ungeschriebene und absolut unumgängliche Regel für einen Ermittler gebrochen. Baue niemals eine persönliche Beziehung zu Zeugen eines Mordfalls auf, wie unschuldig er oder sie auch scheinen mögen. Er wusste nicht, wie oft er still vor sich hin geflucht hatte, als er zwischen den Holzhäusern von Møllenberg in Richtung Präsidium gelaufen war.Aber größer noch als seine Verärgerung war sein Erstaunen. Das Ganze war so schnell gegangen. Ohne jede Vorwarnung. Und das war komplett untypisch für ihn. Siri Holm hatte natürlich recht. Normalerweise verfügte er über ausreichend Selbstkontrolle, um einen karrieremäßigen Selbstmordversuch dieser Art zu umschiffen, aber in diesem Fall hatte er einfach den Kopf ausgeschaltet und sich verführen lassen. Er, Odd Singsaker, der stoische Ermittler und
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