Buchanan - 06 - Schattentanz
alles erzählen, wenn du wieder in Boston bist. Und Laurant geht es gut.«
»Sie ist im Krankenhaus. Es geht ihr nicht gut.«
»Sie ist bestens versorgt.«
Jordan schüttelte den Kopf. »Wenn du mein Bruder wärst und ich so etwas vor dir geheim halten würde, wie würdest du dich dann fühlen?«
Er warf ihr einen Blick zu. »Süße, wenn ich dein Bruder wäre, hätten wir ein viel größeres Problem.«
Seine Hand schlüpfte unter ihr T-Shirt, und er zupfte am Bund ihrer Boxershorts, um zu verdeutlichen, was er meinte.
»Okay, das war ein schlechtes Beispiel.« Sie ergriff ihren Papierstapel. »Ich hasse Geheimnisse«, murmelte sie.
»Ach ja? Dafür kannst du aber selbst ganz gut Geheimnisse bewahren.« Er klang ärgerlich.
Überrascht von seinem Stimmungsumschwung, fragte sie: »Was soll das denn heißen? Ich habe keine Geheimnisse.«
»Willst du mir was über die kleine Narbe an deiner rechten Brust erzählen?«
»Was ist damit?«
»Ich meine mich zu erinnern, etwas von einer Operation gehört zu haben.«
»Das ist … schon eine Zeitlang her«, erwiderte sie. Wie sollte sie nur aus der Falle wieder herauskommen, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte? »Es war keine große Sache.«
»Hattest du nicht einen Knoten in der Brust?«
»Ja, aber nur einen ganz kleinen.«
Er ignorierte ihren Einwand und fuhr fort: »Und hast du ihn nicht im Krankenhaus entfernen lassen, ohne deiner Familie auch nur einen Ton davon zu sagen?«
Jordan holte tief Luft. »Das war doch nur eine Biopsie.«
»Das spielt keine Rolle. Du wolltest nicht, dass sich jemand Sorgen macht, oder? Wenn nun etwas schief gegangen wäre? Wenn aus der Biopsie nun plötzlich eine große Operation geworden wäre?«
»Kate hat mich ins Krankenhaus gefahren. Sie hätte alle angerufen.«
»Und das findest du okay?«
»Nein«, gab Jordan zu. »Es war falsch. Aber ich hatte Angst. Und wenn ich allen davon erzählt hätte, wäre es irgendwie realer geworden.«
Es war seltsam, aber er verstand sie. Er ergriff ihre Hand.
»Ich sage dir eins: Wenn du so eine Nummer jemals bei mir abziehst, mache ich dir die Hölle heiß.« Schon bei dem Gedanken daran, dass sie so etwas Ernstes vor ihm verheimlichen könnte, wurde er wütend.
»Keine Geheimnisse«, versprach sie.
»Genau.«
Sie versuchte aufzustehen.
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Ich wollte eigentlich ein bisschen weiterlesen, aber ich habe keine Lust auf Berichte über uralte Fehden.«
Er zog sie wieder an sich.
»Lies mir etwas vor. Vielleicht über eine Schlacht«, schlug er vor. »Das wird dich entspannen.«
Sie beschloss, ihm den Gefallen zu tun. Sie lehnte sich an seine Brust und legte den Stapel Papiere in ihren Schoß.
Er blickte über ihre Schulter. »Wie weit bist du eigentlich schon gekommen?«
»Ich weiß nicht genau. Ich habe willkürlich ein oder zwei Geschichten aus jedem Jahrhundert ausgewählt. Wenn ich wieder zu Hause bin, lese ich alles einmal komplett durch. Und dann recherchiere ich auf eigene Faust. Ich will schließlich die Wahrheit herausfinden.« Sie fügte hinzu: »Allerdings bin ich mir sicher, dass in jeder Geschichte eine Spur Wahrheit enthalten ist. Zum größten Teil wurden sie von Generation zu Generation weitergegeben.«
Sie hielt ihm den Stapel hin.
»Such du eine aus.«
Sie sah ihm zu, als er die Seiten durchblätterte.
»Warte mal«, sagte sie auf einmal. »Ich habe gerade etwas gesehen – da ist es wieder.«
Sie zog die Seite heraus und hielt sie hoch.
»Siehst du? Der Professor hat das Datum 1284 an den Rand geschrieben. Ich habe es auch schon auf zwei anderen Seiten gefunden. Und was ist das? Eine Krone? Ein Schloss? Anscheinend hat 1284 die Fehde begonnen. Glaubst du nicht auch?«
»Vielleicht«, erwiderte er. »Die Schrift ist ganz dick, als wenn er die Zahlen mehrmals umrandet hätte, um sie nicht zu vergessen.«
»Oh nein, er musste die Zahl nicht mehrmals aufschreiben, um sie nicht zu vergessen. Er hat mir gegenüber damit geprahlt, er besäße ein fotografisches Gedächtnis. Wahrscheinlich hat er sie eher geistesabwesend hingekritzelt, während er an etwas anderes gedacht hat.«
»Was hat er über sein Gedächtnis gesagt?«
»Er sagte, sein Gedächtnis sei außergewöhnlich gut. Er würde nie ein Gesicht oder einen Namen vergessen, ganz gleich, wie viel Zeit verstrichen wäre. Er hat diese Geschichten nur aufgeschrieben, um sie für die Nachwelt zu erhalten, er selbst kannte sie auswendig. Er war ein besessener Leser.
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