Buddenbrooks
Zahnkrämpfe hatte! Ich will nur hoffen, daß sie frei ist …«
{617} Und Schwester Leandra kam. Sie legte still ihre kleine Handtasche, ihren Umhang und die graue Haube ab, die sie über der weißen trug, und ging, während der Rosenkranz, der an ihrem Gürtel hing, leise klapperte, mit sanften und freundlichen Worten und Bewegungen an ihre Arbeit. Sie pflegte die verwöhnte und nicht immer geduldige Kranke Tag und Nacht und zog sich dann stumm und fast beschämt über die menschliche Schwäche, der sie unterlag, zurück, um sich von einer anderen Schwester ablösen zu lassen, zu Hause ein wenig zu schlafen und dann zurückzukehren.
Denn die Konsulin verlangte beständigen Dienst an ihrem Bette. Je mehr sich ihr Zustand verschlimmerte, desto mehr wandte sich ihr ganzes Denken, ihr ganzes Interesse ihrer Krankheit zu, die sie mit Furcht und einem offenkundigen, naiven Haß beobachtete. Sie, die ehemalige Weltdame, mit ihrer stillen, natürlichen und dauerhaften Liebe zum Wohlleben und zum Leben überhaupt, hatte ihre letzten Jahre mit Frömmigkeit und Wohlthätigkeit erfüllt … warum? Vielleicht nicht nur aus Pietät gegen ihren verstorbenen Gatten, sondern auch aus dem unbewußten Triebe, den Himmel mit ihrer starken Vitalität zu versöhnen und ihn zu veranlassen, ihr dereinst trotz ihrer zähen Anhänglichkeit an das Leben, einen sanften Tod zu vergönnen? Aber sie konnte nicht sanft sterben. Manches schmerzlichen Erlebnisses ungeachtet war ihre Gestalt vollständig ungebeugt und ihr Auge klar geblieben. Sie liebte es, gute Mahlzeiten zu halten, sich vornehm und reich zu kleiden, das Unerfreuliche, was um sie her bestand oder geschah, zu übersehen, zu vertuschen und wohlgefällig an dem hohen Ansehen teilzunehmen, das ihr ältester Sohn sich weit und breit verschafft hatte. Diese Krankheit, diese Lungenentzündung war in ihren aufrechten Körper eingebrochen, ohne daß irgendwelche seelische Vorarbeit ihr das Zerstörungswerk erleichtert hätte … jene Minierarbeit des Leidens, die uns lang {618} sam und unter Schmerzen dem Leben selbst oder doch den Bedingungen entfremdet, unter denen wir es empfangen haben, und in uns die süße Sehnsucht nach einem Ende, nach anderen Bedingungen oder nach dem Frieden erweckt … Nein, die alte Konsulin fühlte wohl, daß sie trotz der christlichen Lebensführung ihrer letzten Jahre nicht eigentlich bereit war, zu sterben, und der unbestimmte Gedanke, daß, sollte dies ihre letzte Krankheit sein, diese Krankheit ganz selbständig, in letzter Stunde und in gräßlicher Eile, mit Körperqualen ihren Widerstand zerbrechen und die Selbstaufgabe herbeiführen müsse, erfüllte sie mit Angst.
Sie betete viel; aber fast mehr noch überwachte sie, so oft sie bei Besinnung war, ihren Zustand, fühlte selbst ihren Puls, maß ihr Fieber, bekämpfte ihren Husten … Der Puls aber ging schlecht, das Fieber stieg desto höher, nachdem es ein wenig gefallen war und warf sie aus Schüttelfrösten in hitzige Delirien, der Husten, der mit inneren Schmerzen verbunden war und blutigen Auswurf zu Tage förderte, nahm zu, und Atemnot ängstigte sie. Das Alles aber kam daher, daß jetzt nicht mehr nur ein Lappen der rechten Lunge, sondern die ganze rechte Lunge in Mitleidenschaft gezogen war, ja, daß, wenn nicht Alles täuschte, auch schon an der linken Seite Spuren des Vorganges bemerkbar waren, den Doktor Langhals, indem er seine Fingernägel besah, »Hepatisation« nannte, und über den Doktor Grabow sich lieber gar nicht weiter ausließ … Das Fieber zehrte unablässig. Der Magen begann zu versagen. Unaufhaltsam, mit zäher Langsamkeit, schritt der Kräfteverfall vorwärts.
Sie verfolgte ihn, nahm, wenn sie irgend dazu imstande war, eifrig die konzentrierte Nahrung, die man ihr bot, hielt sorglicher noch, als ihre Pflegerinnen die Stunden des Medizinierens inne und war von Alldem so in Anspruch genommen, daß sie beinahe nur noch mit den Ärzten sprach und wenigstens {619} nur im Gespräche mit ihnen aufrichtiges Interesse an den Tag legte. Besuche, die anfänglich vorgelassen wurden, Freundinnen, Mitglieder des »Jerusalemsabend«, alte Damen aus der Gesellschaft und Pastorsgattinnen, empfing sie apathisch oder mit zerstreuter Herzlichkeit und entließ sie rasch. Ihre Angehörigen empfanden peinlich die Gleichgültigkeit, mit der die alte Dame ihnen begegnete; sie nahm sich wie eine Art Geringschätzung aus, die besagte: »Ihr könnt mir ja doch nicht helfen.« Selbst dem kleinen
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