Buddenbrooks
Personen, die längst gestorben waren. Eines Nachmittags in der Dämmerung sagte sie plötzlich mit lauter, etwas ängstlicher aber inbrünstiger Stimme: »Ja, mein lieber Jean, ich komme!« Und die Unmittelbarkeit dieser Antwort war so täuschend, daß man nachträglich die Stimme des verstorbenen Konsuls zu hören glaubte, der sie gerufen hatte.
Christian traf ein; er kam von Hamburg, woselbst er, wie er sagte, Geschäfte gehabt hatte, und verweilte übrigens nur kurze Zeit im Krankenzimmer; dann verließ er es, indem er sich über die Stirn strich, die Augen wandern ließ und sagte: »Das ist ja furchtbar … Das ist ja furchtbar … Ich kann es nun nicht mehr.«
Auch Pastor Pringsheim erschien, streifte Schwester Leandra mit einem kalten Blick und betete mit modulierender Stimme am Bette der Konsulin.
Und dann kam die kurze Besserung, das Aufflackern, ein Nachlassen des Fiebers, eine täuschende Rückkehr der Kräfte, {622} ein Stillewerden der Schmerzen, ein paar klare und hoffnungsvolle Äußerungen, die den Umstehenden Thränen der Freude in die Augen treiben …
»Kinder, wir behalten sie, ihr sollt sehen, wir behalten sie trotz alledem!« sagte Thomas Buddenbrook. »Wir haben sie Weihnachten bei uns und erlauben nicht, daß sie sich dabei aufregt wie sonst …«
Aber schon in der nächstfolgenden Nacht, kurze Zeit nachdem Gerda und ihr Gatte zu Bette gegangen waren, wurden sie vonseiten Frau Permaneders in die Mengstraße berufen, da die Kranke mit dem Tode kämpfe. Der Wind fuhr in den kalten Regen, der herniederging, und trieb ihn prasselnd gegen die Fensterscheiben.
Als der Senator und seine Frau das Zimmer betraten, das von den Kerzen zweier Armleuchter erhellt war, die auf dem Tische brannten, waren die beiden Ärzte schon zugegen. Auch Christian war aus seinem Zimmer heruntergeholt worden und saß irgendwo, indem er dem Himmelbette den Rücken zuwandte und die Stirn, tief gebückt, in beide Hände stützte. Man erwartete den Bruder der Kranken, Konsul Justus Kröger, nach dem ebenfalls geschickt worden war. Frau Permaneder und Erika Weinschenk hielten sich leise schluchzend am Fußende des Bettes. Schwester Leandra und Mamsell Severin hatten nichts mehr zu thun und blickten betrübt in das Gesicht der Sterbenden.
Die Konsulin lag, von mehreren Kissen gestützt, auf dem Rücken, und ihre beiden Hände, diese schönen, mattblau geäderten Hände, die nun so mager, so ganz abgezehrt waren, streichelten hastig und unaufhörlich, mit zitternder Eilfertigkeit die Steppdecke. Ihr Kopf, mit einer weißen Nachthaube bedeckt, wandte sich ohne Unterlaß, mit entsetzenerregender Taktmäßigkeit von einer Seite zur anderen. Ihr Mund, dessen Lippen einwärts gezogen zu sein schienen, öffnete und schloß {623} sich schnappend bei jedem qualvollen Atmungsversuch, und ihre eingesunkenen Augen irrten hülfesuchend umher, um hie und da mit einem erschütternden Ausdruck von Neid auf einer der anwesenden Personen haften zu bleiben, die angekleidet waren und atmen konnten, denen das Leben gehörte und die nichts weiter zu thun vermochten, als das Liebesopfer zu bringen, das darin bestand, den Blick auf dieses Bild gerichtet zu halten. Und die Nacht rückte vor, ohne daß eine Veränderung eingetreten wäre.
»Wie lange kann es noch dauern?« fragte Thomas Buddenbrook leise und zog den alten Doktor Grabow in den Hintergrund des Zimmers, während Doktor Langhals gerade irgend eine Injektion an der Kranken vornahm. Auch Frau Permaneder, das Taschentuch am Munde, trat herzu.
»Ganz unbestimmt, lieber Herr Senator«, antwortete Doktor Grabow. »Ihre Frau Mutter kann in fünf Minuten erlöst sein, und sie kann noch Stunden lang leben … ich kann Ihnen nichts sagen. Es handelt sich um das, was man Stickfluß nennt … ein Ödem …«
»Ich weiß es«, sagte Frau Permaneder und nickte in ihr Taschentuch, während die Thränen über ihre Wangen rannen. »Es kommt bei Lungenentzündungen oft vor … Es hat sich dann so eine wässerige Flüssigkeit in den Lungenbläschen angesammelt, und wenn es schlimm wird, so kann man nicht mehr atmen … Ja, ich weiß es …«
Die Hände vor sich gefaltet, blickte der Senator zum Himmelbette hinüber.
»Wie furchtbar sie leiden muß!« flüsterte er.
»Nein!« sagte Doktor Grabow ebenso leise, aber mit ungeheurer Autorität und legte sein langes, mildes Gesicht in entschiedene Falten … »Das täuscht, glauben Sie mir, liebster Freund, das täuscht! Das Bewußtsein ist
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