Buddenbrooks
sehr getrübt … Es sind allergrößten Teiles Reflexbewegungen, was Sie da sehen … Glauben Sie mir …«
{624} Und Thomas antwortete: »Gott gebe es!« – Aber jedes Kind hätte es an den Augen der Konsulin sehen können, daß sie ganz und gar bei Bewußtsein war und Alles empfand …
Man nahm seine Plätze wieder ein … Auch Konsul Kröger war eingetroffen und saß, über die Krücke seines Stockes gebeugt, mit geröteten Augen am Bette.
Die Bewegungen der Kranken hatten zugenommen. Eine schreckliche Unruhe, eine unsägliche Angst und Not, ein unentrinnbares Verlassenheits- und Hülflosigkeitsgefühl ohne Grenzen mußte diesen, dem Tode ausgelieferten Körper vom Scheitel bis zur Sohle erfüllen. Ihre Augen, diese armen, flehenden, wehklagenden und suchenden Augen schlossen sich bei den röchelnden Drehungen des Kopfes manchmal mit brechendem Ausdruck oder erweiterten sich so sehr, daß die kleinen Adern des Augapfels blutrot hervortraten. Und keine Ohnmacht kam!
Kurz nach drei Uhr sah man, wie Christian aufstand. »Ich kann es nun nicht mehr«, sagte er und ging, indem er sich auf die Möbelstücke stützte, die an seinem Wege standen, lahmend zur Thür hinaus. – Übrigens waren Erika Weinschenk sowohl, wie Mamsell Severin, eingelullt wahrscheinlich von den einförmigen Schmerzenslauten, auf ihren Stühlen eingeschlafen und blühten rosig im Schlummer.
Um vier Uhr ward es schlimmer und schlimmer. Man stützte die Kranke und trocknete ihr den Schweiß von der Stirn. Die Atmung drohte gänzlich zu versagen, und die Ängste nahmen zu. »Etwas zu schlafen …!« brachte sie hervor. »Ein Mittel …!« Aber man war weit entfernt davon, ihr etwas zu schlafen zu geben.
Plötzlich begann sie wieder zu antworten, auf etwas, was die Anderen nicht hörten, wie sie es schon einmal gethan hatte. »Ja, Jean, nicht lange mehr!« … Und gleich darauf: »Ja, liebe Clara, ich komme! …«
{625} Und dann begann der Kampf aufs Neue … War es noch ein Kampf mit dem Tode? Nein, sie rang jetzt mit dem Leben um den Tod. »Ich will gerne …« keuchte sie … »ich kann nicht … Was zu schlafen! … Meine Herren, aus Barmherzigkeit! was zu schlafen …!«
Dieses »aus Barmherzigkeit« machte, daß Frau Permaneder laut aufweinte und Thomas leise stöhnte, indem er einen Augenblick seinen Kopf mit den Händen erfaßte. Aber die Ärzte kannten ihre Pflicht. Es galt unter allen Umständen, dieses Leben den Angehörigen so lange wie nur irgend möglich zu erhalten, während ein Betäubungsmittel sofort ein widerstandsloses Aufgeben des Geistes bewirkt haben würde. Ärzte waren nicht auf der Welt, den Tod herbeizuführen, sondern das Leben um jeden Preis zu konservieren. Dafür sprachen außerdem gewisse religiöse und moralische Gründe, von denen sie auf der Universität sehr wohl gehört hatten, wenn sie ihnen im Augenblick auch nicht gegenwärtig waren … Sie stärkten im Gegenteil mit verschiedenen Mitteln das Herz und brachten durch Brechreiz mehrere Male eine momentane Erleichterung hervor.
Um fünf Uhr konnte der Kampf nicht mehr furchtbarer werden. Die Konsulin, im Krampfe aufgerichtet und mit weit geöffneten Augen, stieß mit den Armen um sich, als griffe sie nach einem Haltepunkt oder nach Händen, die sich ihr entgegenstreckten und antwortete nun unaufhörlich in die Luft hinein nach allen Seiten auf Rufe, die nur sie vernahm, und die immer zahlreicher und dringlicher zu werden schienen. Es war, als ob nicht nur ihr verstorbener Gatte und ihre Tochter, sondern auch ihre Eltern, Schwiegereltern und mehrere andere, ihr im Tode vorangegangene Anverwandte irgendwo anwesend waren, und sie nannte Vornamen, von denen niemand im Zimmer sofort hätte sagen können, welche Verstorbenen damit gemeint seien. »Ja!« rief sie und wandte sich nach verschiedenen {626} Richtungen … »Jetzt komme ich … Sofort … Diesen Augenblick noch … So … Ich kann nicht … Ein Mittel, meine Herren …«
Um halb sechs Uhr trat ein Augenblick der Ruhe ein. Und dann, ganz plötzlich, ging über ihre gealterten und vom Leiden zerrissenen Züge ein Zucken, eine jähe, entsetzte Freude, eine tiefe, schauernde, furchtsame Zärtlichkeit, blitzschnell breitete sie die Arme aus, und mit einer so stoßartigen und unvermittelten Schnelligkeit, daß man fühlte: zwischen Dem, was sie gehört, und ihrer Antwort lag nicht ein Augenblick – rief sie laut mit dem Ausdruck des unbedingtesten Gehorsams und einer
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