Buddenbrooks
Hanno, der in einer erträglichen Stunde eingelassen wurde, strich sie nur flüchtig über die Wange und wandte sich dann ab. Es war, als wollte sie sagen: »Kinder, ihr seid Alle liebe Leute, aber ich – ich muß vielleicht sterben!« Die beiden Ärzte dagegen empfing sie mit lebhafter und interessierter Wärme, um eingehend mit ihnen zu konferieren …
Eines Tages erschienen die alten Damen Gerhardt, die Nachkommen Paul Gerhardts. Sie kamen mit ihren Mantillen, ihren tellerartigen Hüten und ihren Provianttaschen von Armenbesuchen, und man konnte ihnen nicht verwehren, ihre kranke Freundin zu sehen. Man ließ sie allein mit ihr, und Gott allein weiß, was sie zu ihr sprachen, während sie an ihrem Bette saßen. Als sie aber gingen, waren ihre Augen und Gesichtszüge noch klarer, noch milder und selig verschlossener, als vorher, und drinnen lag die Konsulin mit ebensolchen Augen und ebensolchem Gesichtsausdruck, lag ganz still, ganz friedlich, friedlicher als jemals, ihr Atem ging selten und sanft, und sie fiel ersichtlich von Schwäche zu Schwäche. Frau Permaneder, die den Damen Gerhardt ein starkes Wort nachmurmelte, schickte sofort zu den Ärzten, und kaum erschienen die beiden Herren im Rahmen der Thür, als eine vollständige, eine verblüffende Veränderung mit der Konsulin vor sich ging. Sie erwachte, sie geriet in Bewegung, sie richtete sich beinahe auf. Der Anblick dieser Männer, dieser beiden notdürftig unterrichteten Mediziner gab sie mit einem Schlage der Erde wieder. Sie streckte ihnen die Hände entgegen, beide Hände und fing an:
{620} »Seien Sie mir willkommen, meine Herren! Die Sachen stehen nun so, daß heute im Lauf des Tages …«
Aber es war längst der Tag gekommen, da die doppelseitige Lungenentzündung nicht mehr wegzuleugnen gewesen war.
»Ja, mein lieber Herr Senator«, hatte Doktor Grabow gesagt und Thomas Buddenbrooks Hände genommen … »Wir haben es nicht verhindern können, es ist nun doppelseitig, und das ist immer bedenklich, wie Sie so gut wissen wie ich, ich mache Ihnen kein X für ein U … Es ist, ob der Patient nun zwanzig oder siebenzig Jahre alt ist, in jedem Falle eine Sache, die man ernst nehmen muß, und wenn Sie mich daher heute noch einmal fragten, ob Sie Ihrem Herrn Bruder Christian schreiben, ihm vielleicht ein kleines Telegramm schicken sollten, so würde ich nicht abraten, ich würde mich besinnen, Sie davon abzuhalten … Wie geht es ihm übrigens? Ein spaßhafter Mann; ich habe ihn immer herzlich gern gehabt … Um Gottes Willen, ziehen Sie keine übertriebenen Folgerungen aus meinen Worten, lieber Senator! Nicht als ob nun eine unmittelbare Gefahr vorläge … ach was, ich bin thöricht, das Wort in den Mund zu nehmen! Aber unter diesen Verhältnissen, wissen Sie, muß man immer aus der Ferne mit unvorhersehbaren Zufälligkeiten rechnen … Mit Ihrer verehrten Frau Mutter als Patientin sind wir ja ganz außerordentlich zufrieden. Sie hilft uns wakker, sie läßt uns nicht im Stich … nein, ohne Kompliment, als Patientin ist sie unübertrefflich! Und darum hoffen, mein lieber Herr Senator, hoffen! Lassen Sie uns immer das Beste hoffen!«
Aber es kommt ein Augenblick, von dem an die Hoffnung der Angehörigen etwas Künstliches und Unaufrichtiges ist. Schon hat sich eine Veränderung mit dem Kranken vollzogen, und etwas der Person Fremdes, die er im Leben darstellte, ist in seinem Benehmen. Gewisse, seltsame Worte kommen aus seinem Munde, auf die wir nicht zu antworten verstehen, und die {621} ihm gleichsam den Rückweg abschneiden und ihn dem Tode verpflichten. Und wäre er uns der Liebste, wir können nach Alldem nicht mehr wollen, daß er aufstehe und wandle. Würde er es dennoch thun, so würde er Grauen um sich verbreiten wie Einer, der dem Sarge entstiegen …
Gräßliche Merkmale der beginnenden Auflösung zeigten sich, während die Organe, von einem zähen Willen in Gang gehalten, noch arbeiteten. Da, seit die Konsulin sich mit einem Katarrh hatte zu Bette legen müssen, Wochen vergangen waren, so hatten sich durch das Liegen an ihrem Körper mehrere Wunden gebildet, die sich nicht mehr schlossen und in einen fürchterlichen Zustand übergingen. Sie schlief nicht mehr; erstens, weil Schmerz, Husten und Atemnot sie daran hinderten, dann aber, weil sie selbst sich gegen den Schlaf auflehnte und sich an das Wachsein klammerte. Nur für Minuten ging ihr Bewußtsein im Fieber unter; aber auch bei bewußten Sinnen sprach sie laut mit
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