Buddenbrooks
müßte dort im nächsten Augenblick die wirkliche Großmama erscheinen … Aber sie kam nicht. Sie war tot. Der Tod hatte sie für immer mit dieser wächsernen Figur vertauscht, die ihre Lider und Lippen so unerbittlich, so unnahbar fest geschlossen hielt …
{648} Er stand, auf dem linken Beine ruhend, das rechte Knie so gebogen, daß der Fuß leicht auf der Spitze balancierte, und hielt mit einer Hand den Schifferknoten auf seiner Brust erfaßt, während die andere schlaff hinabhing. Sein Kopf mit dem lokkig in die Schläfen fallenden hellbraunen Haar war zur Seite geneigt, und unter zusammengezogenen Brauen blickten seine goldbraunen von bläulichen Schatten umlagerten Augen blinzelnd, mit einem abgestoßenen und grüblerischen Ausdruck in das Antlitz der Leiche. Er atmete langsam und zögernd, denn bei jedem Atemzuge erwartete er den Duft, jenen fremden und doch so seltsam vertrauten Duft, den die Wolken von Blumengerüchen nicht immer zu übertäuben vermochten. Und wenn er kam, wenn er ihn verspürte, so zogen sich seine Brauen fester zusammen, und seine Lippen gerieten einen Augenblick in zitternde Bewegung … Schließlich seufzte er; aber es klang so sehr wie ein thränenloses Schluchzen, daß Frau Permaneder sich zu ihm niederbeugte, ihn küßte und ihn fortführte.
Und nachdem der Senator und seine Frau, zusammen mit Frau Permaneder und Erika Weinschenk, während langer Stunden im Landschaftszimmer die Condolationen der Stadt entgegengenommen hatten, ward Elisabeth Buddenbrook, geborene Kröger, zur Erde bestattet. Auswärtige Verwandte waren aus Frankfurt und Hamburg dazu eingetroffen und hatten zum letzten Male gastliche Aufnahme im Mengstraßenhause gefunden. Und die Menge der Leidtragenden füllte Saal und Landschaftszimmer, Säulenhalle und Korridor, als bei brennenden Kerzen, in aufrechter Majestät zu Häupten des Sarges, das rasierte Antlitz, dessen Ausdruck zwischen düsterem Fanatismus und milder Verklärung wechselte, über der breiten, gefalteten Halskrause gegen Himmel gewandt und die Hände dicht unterm Kinn gefaltet, Pastor Pringsheim von St. Marien die Trauerrede hielt.
Er lobpries in schwellenden und verhallenden Lauten die {649} Eigenschaften der Dahingeschiedenen, ihre Vornehmheit und Demut, ihre Heiterkeit und Frömmigkeit, ihre Wohlthätigkeit und Milde. Er erwähnte des »Jerusalemsabends« und der »Sonntagsschule«, er ließ das ganze lange, reiche und glückselige Erdenleben der Verewigten noch einmal im Glanz seiner Dialektik erstrahlen … und da das Wort »Ende« ein Beiwort haben muß, so sprach er zuletzt von ihrem sanften Ende.
Frau Permaneder wußte wohl, was sie in dieser Stunde sich selbst und der ganzen Versammlung an Würde und repräsentativer Haltung schuldete. Sie hatte, zusammen mit ihrer Tochter Erika und ihrer Enkelin Elisabeth, die sichtbarsten Ehrenplätze dicht beim Pastor, neben dem Kopfende des mit Kränzen bedeckten Sarges in Besitz genommen, während Thomas, Gerda, Christian, Klothhilde und der kleine Johann, sowie der alte Konsul Kröger, der auf einem Stuhle saß, gleich den Verwandten zweiten Grades es sich gefallen ließen, der Feier an minder ausgezeichneten Plätzen beizuwohnen. Hochaufgerichtet, mit ein wenig emporgezogenen Schultern, das schwarzgeränderte Batisttuch zwischen den zusammengelegten Händen, stand sie da, und ihr Stolz über die erste Rolle, die ihr bei dieser Feierlichkeit zufiel, war so groß, daß er manchmal den Schmerz vollständig zurückdrängte und in Vergessenheit geraten ließ. Ihre Augen, die sie in dem Bewußtsein, den beobachtenden Blicken der ganzen Stadt ausgesetzt zu sein, meistens gesenkt hielt, konnten es sich hie und da nicht versagen, über die Menge hinzuschweifen, in der sie auch Julchen Möllendorpf, geborene Hagenström, und ihren Gatten gewahrte … Ja, sie hatten alle kommen müssen, die Möllendorpfs, Kistenmakers, Langhals' und Oeverdiecks! Bevor Tony Buddenbrook ihr Elternhaus räumte, hatten sie sich noch einmal hier zusammenscharen müssen, um ihr, trotz Grünlich, trotz Permaneder und trotz Hugo Weinschenk, ihre mittrauernde Ehrerbietung zu erweisen …!
{650} Und Pastor Pringsheim bohrte mit seiner Trauerrede in der Wunde herum, die der Tod geschlagen hatte, er führte mit Berechnung einem Jeden vor Augen, was er verloren, er verstand es, Thränen auch dort hervorzupressen, wo von selbst keine geflossen wären, und dafür waren die Gerührten ihm dankbar. Als er den »Jerusalemsabend« zur
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