Buddenbrooks
Warum hockte er beständig nur mit diesem kleinen, halb gewaschenen Kai zusammen, der ja ein gutes Kind, aber immerhin eine etwas zweifelhafte Existenz und kaum eine Freundschaft für die Zukunft war? Auf {686} irgend eine Weise muß ein Knabe sich das Vertrauen und den Respekt seiner Umgebung, die mit ihm aufwächst und auf deren Schätzung er für sein ganzes Leben angewiesen ist, von Anfang an zu gewinnen wissen. Da waren die beiden Söhne des Konsuls Hagenström: vierzehn- und zwölfjährig, zwei Prachtkerle, dick, stark und übermütig, die in den Gehölzen der Umgegend regelrechte Faustduelle veranstalteten, die besten Turner der Schule waren, schwammen wie Seehunde, Cigarren rauchten und zu jeder Schandthat bereit waren. Sie waren gefürchtet, beliebt und respektiert. Ihre Cousins, die beiden Söhne des Staatsanwaltes Doktor Moritz Hagenström andererseits, von zarterer Konstitution und sanfteren Sitten, zeichneten sich auf geistigem Gebiete aus und waren Musterschüler, ehrgeizig, devot, still und bienenfleißig, bebend aufmerksam, und beinahe verzehrt von der Begier, stets primus zu sein und das Zeugnis Numero Eins zu erhalten. Sie erhielten es und genossen die Achtung ihrer dümmeren und fauleren Genossen. Was aber mochten, ganz abgesehen von seinen Lehrern, seine Mitschüler von Hanno halten, der ein höchst mittelmäßiger Schüler war, und obendrein ein Weichling, welcher Allem, wozu ein wenig Mut, Kraft, Gewandtheit und Munterkeit gehörte, scheu aus dem Wege zu gehen suchte? Und wenn Senator Buddenbrook, auf dem Wege zu seinem Ankleidezimmer, an dem »Altan« in der zweiten Etage vorüberging, so hörte er aus dem mittleren der drei dort oben gelegenen Zimmer, das Hannos war, seitdem er zu groß geworden, bei Ida Jungmann zu schlafen, die Töne des Harmoniums oder Kais halblaute und geheimnisvolle Stimme, die eine Geschichte erzählte …
Was Kai betraf, so mied er die »Turnspiele«, weil er die Disziplin und gesetzmäßige Ordnung verabscheute, die dabei beobachtet werden mußte. »Nein, Hanno«, sagte er, »ich gehe nicht hin. Du vielleicht? Hol's der Geier … Alles, was Einem Spaß dabei machen würde, das gilt nicht.« Solche Redewen {687} dungen wie »Hol's der Geier« hatte er von seinem Vater; Hanno aber antwortete: »Wenn Herr Fritsche
einen
Tag nach etwas Anderem röche, als nach Schweiß und Bier, so ließe sich über die Sache reden … Ja, nun laß das nur, Kai, und erzähle weiter. Das mit dem Ringe, den du aus dem Sumpfe holtest, war noch lange nicht fertig …« »Gut«, sagte Kai; »aber wenn ich winke, so mußt du spielen.« Und Kai fuhr fort zu erzählen.
Durfte man ihm glauben, so war er vor einiger Zeit bei schwüler Nacht und in fremder, unkenntlicher Gegend einen schlüpfrigen und unermeßlich tiefen Abhang hinabgeglitten, an dessen Fuße er im fahlen und flackernden Schein von Irrlichtern ein schwarzes Sumpfgewässer gefunden hatte, aus dem mit hohl glucksendem Geräusch unaufhörlich silberblanke Blasen aufgestiegen waren. Eine aber davon, die, nahe dem Ufer, beständig wiedergekehrt war, so oft sie zersprungen, hatte die Form eines Ringes gehabt, und diese hatte er nach langen, gefahrvollen Bemühungen mit der Hand zu erhaschen verstanden, worauf sie nicht mehr zerplatzt war, sondern sich als glatter und fester Reif hatte an den Finger stecken lassen. Er aber, der mit Recht diesem Ringe ungewöhnliche Eigenschaften zugetraut hatte, war mit seiner Hilfe den steilen und schlüpfrigen Abhang wieder emporgelangt und hatte unweit davon in rötlichem Nebel ein schwarzes, totenstilles und ungeheuerlich bewachtes Schloß gefunden, in das er eingedrungen war, und in dem er, immer mit Hülfe des Ringes, die dankenswertesten Entzauberungen und Erlösungen vorgenommen hatte … In den seltsamsten Augenblicken aber griff Hanno auf seinem Harmonium süße Accordfolgen … Auch wurden, standen nicht unüberwindliche scenische Schwierigkeiten im Wege, diese Erzählungen mit Musikbegleitung auf dem Puppentheater dargestellt … Zu den »Turnspielen« aber ging Hanno nur auf ausdrücklichen und strengen Befehl seines Vaters, und dann begleitete ihn der kleine Kai.
{688} Es war nicht anders mit dem Schlittschuhlaufen zur Winterszeit und mit dem Baden in der hölzernen Anstalt des Herrn Asmussen, unten am Fluß, im Sommer … »Baden! Schwimmen!« hatte Doktor Langhals gesagt. »Der Junge muß baden und schwimmen!« Und der Senator war vollständig damit einverstanden gewesen. Was
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