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Buddenbrooks

Buddenbrooks

Titel: Buddenbrooks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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paar Seeluft-Sonntage im Sommer haben natürlich nicht viel vermocht … Wir haben Ende September, Travemünde ist noch in Betrieb, es ist noch nicht vollständig entvölkert. Fahren Sie hin, Herr Senator, und setzen Sie sich noch ein wenig an den Strand. Vierzehn Tage oder drei Wochen reparieren schon Manches …«
    Und Thomas Buddenbrook sagte Ja und Amen hierzu. Als aber die Seinen von dem Entschlusse erfuhren, erbot sich Christian, ihn zu begleiten.
    »Ich gehe mit, Thomas«, sagte er einfach. »Du hast wohl nichts dagegen.« Und obgleich der Senator eigentlich eine Menge dagegen hatte, sagte er abermals Ja und Amen.
    Die Sache war die, daß Christian jetzt mehr als jemals Herr seiner Zeit war, denn wegen schwankender Gesundheit hatte er sich genötigt gesehen, auch seine letzte kaufmännische Thätigkeit, die Champagner- und Cognac-Agentur fahren zu lassen. Das Trugbild eines Mannes, der in der Dämmerung auf seinem Sofa saß und ihm zunickte, hatte sich erfreulicherweise nicht wiederholt. Aber mit der periodischen »Qual« in seiner linken Seite war es womöglich noch schlimmer geworden, und Hand in Hand mit ihr ging eine große Anzahl anderer Unzu {731} träglichkeiten, die Christian sorgfältig beobachtete und mit krauser Nase schilderte, wo er ging und stand. Oftmals, wie schon früher, versagten beim Essen seine Schluckmuskeln, sodaß er, den Bissen im Halse, dasaß und seine kleinen, runden, tiefliegenden Augen wandern ließ. Oftmals, wie schon früher, litt er an dem unbestimmten, aber unbesiegbaren Furchtgefühl vor einer plötzlichen Lähmung seiner Zunge, seines Schlundes, seiner Extremitäten, ja sogar seines Denkvermögens. Zwar wurde nichts an ihm gelähmt; aber war nicht die Furcht davor beinahe noch schlimmer? Er erzählte ausführlich, wie er eines Tages, als er sich Thee bereitete, das brennende Zündholz statt über den Kochapparat über die offene Spiritusflasche gehalten habe, sodaß beinahe nicht nur er selbst, sondern auch die übrigen Hausbewohner, ja, vielleicht auch die der Nachbarhäuser auf fürchterliche Weise umgekommen wären … Dies ging zu weit. Was er aber mit besonderer Ausführlichkeit, Eindringlichkeit und Anstrengung, sich ganz verständlich zu machen, beschrieb, war eine scheußliche Anomalie, die er in letzter Zeit an sich wahrgenommen hatte und die darin bestand, daß er an gewissen Tagen, das heißt bei gewisser Witterung und Gemütsverfassung, kein offenes Fenster sehen konnte, ohne von dem gräßlichen und durch nichts gerechtfertigten Drange befallen zu werden, hinauszuspringen … einem wilden und kaum unterdrückbaren Triebe, einer Art von unsinnigem und verzweifeltem Übermut! Eines Sonntages, als die Familie in der Fischergrube speiste, beschrieb er, wie er unter Aufbietung aller moralischen Kräfte auf Händen und Füßen habe zum offenen Fenster kriechen müssen, um es zu schließen … Hier aber schrie Alles auf, und niemand wollte ihm weiter zuhören.
    Diese und ähnliche Dinge konstatierte er mit einer gewissen schauerlichen Genugthuung. Was er aber nicht beobachtete und nicht feststellte, was ihm unbewußt blieb und sich darum {732} beständig verschlimmerte, war der sonderbare Mangel an Taktgefühl, der ihm mit den Jahren immer mehr zu eigen geworden war. Es war schlimm, daß er im Familienkreise Anekdoten erzählte, so geartet, daß er sie höchstens im Klub hätte vorbringen dürfen. Aber es gab auch direkte Anzeichen dafür, daß sein Sinn für körperliche Schamhaftigkeit im Erlahmen begriffen war. In der Absicht, seiner Schwägerin Gerda, mit der er auf freundschaftlichem Fuße stand, zu zeigen, wie durabel gearbeitet seine englischen Socken seien, und wie mager er übrigens geworden sei, gewann er es über sich, vor ihren Augen sein weites, karriertes Beinkleid bis hoch über das Knie zurückzuziehen … »Da sieh, wie mager ich werde … Ist es nicht auffällig und sonderbar?« sagte er bekümmert, indem er mit krauser Nase auf sein knochiges und stark nach außen gekrümmtes Bein in der weißwollenen Unterhose zeigte, unter der sich das hagere Knie trübselig abzeichnete …
    Er hatte, wie gesagt, jetzt jede kaufmännische Thätigkeit fahren lassen; aber diejenigen Stunden am Tage, die er nicht im »Klub« verbrachte, suchte er doch auf verschiedene Weise auszufüllen, und er liebte es, ausdrücklich hervorzuheben, daß er trotz aller Behinderungen niemals vollständig aufgehört habe, zu arbeiten. Er erweiterte seine Sprachkenntnisse und

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