Buddenbrooks
hatte, der Wissenschaft halber und ohne praktischen Endzweck, kürzlich begonnen, Chinesisch zu lernen, worauf er vierzehn Tage lang viel Fleiß verwendet hatte. Zur Zeit war er damit beschäftigt, ein englisch-deutsches Lexikon, das ihm unzulänglich schien, zu »ergänzen«; aber, da eine kleine Luftveränderung ihm so wie so einmal wieder not that und da es schließlich ja wünschenswert war, daß der Senator irgendwelche Begleitung hatte, so vermochte dies Geschäft jetzt nicht, ihn in der Stadt festzuhalten …
Die beiden Brüder fuhren an die See; sie fuhren, indeß der Regen auf das Verdeck des Wagens trommelte, auf der Land {733} straße dahin, die nur Eine Pfütze war, und sprachen beinahe kein Wort. Christian ließ seine Augen wandern, als horche er auf irgend etwas Verdächtiges; Thomas saß fröstelnd in seinen Mantel gehüllt, mit müde blickenden, geröteten Augen, und die langausgezogenen Spitzen seines Schnurrbartes überragten starr seine weißlichen Wangen. So fuhren sie nachmittags in den Kurgarten ein, in dessen verschwemmtem Kies die Räder knirschten. Der alte Makler Sigismund Gosch saß in der Glasveranda des Hauptgebäudes und trank Grog von Rum. Er stand auf, indem er durch die Zähne zischte, und dann setzten sie sich zu ihm, um, während die Koffer hinaufgetragen wurden, auch ihrerseits etwas Warmes zu genießen.
Herr Gosch war ebenfalls noch Kurgast, gleich einigen wenigen Leuten, einer englischen Familie, einer ledigen Holländerin, und einem ledigen Hamburger, die jetzt mutmaßlich ihr Schläfchen vor der Table d'hôte hielten, denn es war überall totenstill, und nur der Regen planschte. Mochten sie schlafen. Herr Gosch schlief am Tage nicht. Er war froh, wenn er sich zur Nacht ein paar Stunden Bewußtlosigkeit erobern konnte. Es ging ihm nicht gut. Er gebrauchte diese späte Luftkur gegen das Zittern, das Zittern in seinen Gliedmaßen … verflucht! er konnte kaum noch das Grogglas halten, und – teuflischer! – er konnte nur selten noch schreiben, sodaß es mit der Übersetzung von Lope de Vegas sämtlichen Dramen jämmerlich langsam vorwärts ging. Er war in sehr gedrückter Stimmung, und seine Gotteslästerungen waren ohne die rechte Freudigkeit. »Laß fahren dahin!« sagte er, und dies schien seine Lieblingsredensart geworden zu sein, denn er wiederholte sie beständig und oftmals ganz außer dem Zusammenhange.
Und der Senator? Was war es mit ihm? Wie lange gedachten die Herren zu bleiben?
Ach, Doktor Langhals habe ihn der Nerven wegen hergeschickt, antwortete Thomas Buddenbrook. Er habe natürlich {734} gehorcht, trotz dieses Hundewetters, denn was thue man nicht aus Furcht vor seinem Arzte! Er fühle sich ja wirklich ein wenig miserabel. Sie würden eben bleiben, bis es ihm besser gehe …
»Ja, übrigens geht es auch mir sehr schlecht«, sagte Christian voll Neid und Erbitterung, daß Thomas nur von sich sprach; und er war im Begriffe, von dem nickenden Manne, der Spiritusflasche und dem offenen Fenster zu berichten, als sein Bruder aufbrach, um die Zimmer in Besitz zu nehmen.
Der Regen ließ nicht nach. Er zerwühlte den Boden und tanzte in springenden Tropfen auf der See, die, vom Süd-West überschauert, vom Strande zurückwich. Alles war in Grau gehüllt. Die Dampfer zogen wie Schatten und Geisterschiffe vorüber und verschwanden am verwischten Horizont.
Mit den fremden Gästen traf man nur beim Essen zusammen. Der Senator ging mit dem Makler Gosch in Gummimantel und Galoschen spazieren, indeß Christian droben in der Konditorei mit der Büffetdame schwedischen Punsch trank.
Zwei oder drei Mal, an Nachmittagen, da es aussah, als ob die Sonne hervorkommen wollte, erschienen zur Table d'hôte ein paar Bekannte aus der Stadt, die sich gern ein wenig unabhängig von ihren Angehörigen unterhielten: Senator Doktor Gieseke, Christians Schulkamerad, und Konsul Peter Döhlmann, der übrigens schlecht aussah, weil er sich durch maßlosen Gebrauch von Hunyadi-Janos-Wasser verdarb. Dann setzten sich die Herren in ihren Paletots unter das Zeltdach der Konditorei, gegenüber dem Musiktempel, in dem nicht mehr musiziert wurde, tranken ihren Kaffee und verdauten ihre fünf Gänge, indem sie in den herbstlichen Kurgarten hinausblickten und plauderten …
Die Ereignisse der Stadt, das letzte Hochwasser, das in viele Keller gedrungen, und bei dem man in den unteren Gruben mit Böten gefahren war, eine Feuersbrunst, ein Schuppenbrand am Hafen, eine Senatswahl wurden
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