Buddenbrooks
in seinem Munde. Nach Hause also … Und er ging langsam durch die Straßen, mechanisch Grüße erwidernd, die ihm dargebracht wurden, mit sinnenden und ungewissen Augen, als dächte er darüber nach, wie ihm eigentlich zu Mute sei.
Er gelangte zur Fischergrube und begann, das linke Trottoir hinunter zu gehen. Nach zwanzig Schritten befiel ihn eine Übelkeit. Ich werde dort drüben in die Schänke treten und einen Cognac trinken müssen, dachte er, und beschritt den Fahrdamm. Als er etwa die Mitte desselben erreicht hatte, geschah ihm Folgendes. Es war genau, als würde sein Gehirn ergriffen und von einer unwiderstehlichen Kraft mit wachsender, fürchterlich wachsender Geschwindigkeit in großen, kleineren und immer kleineren konzentrischen Kreisen herumgeschwungen und schließlich mit einer unmäßigen, brutalen und erbarmungslosen Wucht gegen den steinharten Mittelpunkt dieser Kreise geschmettert … Er vollführte eine halbe Drehung und schlug mit ausgestreckten Armen vornüber auf das nasse Pflaster.
Da die Straße stark abfiel, befand sich sein Oberkörper ziemlich viel tiefer als seine Füße. Er war aufs Gesicht gefallen, unter {750} dem sofort eine Blutlache sich auszubreiten begann. Sein Hut rollte ein Stück des Fahrdammes hinunter. Sein Pelz war mit Kot und Schneewasser bespritzt. Seine Hände, in den weißen Glacéhandschuhen, lagen ausgestreckt in einer Pfütze.
So lag er und so blieb er liegen, bis ein paar Leute herangekommen waren und ihn umwandten.
8.
Frau Permaneder kam die Haupttreppe herauf, indem sie vorn mit der Hand ihr Kleid emporraffte und mit der anderen die große, braune Muff gegen ihre Wange drückte. Sie stürzte und stolperte mehr als daß sie ging, ihr Capothut war unordentlich aufgesetzt, ihre Wangen waren hitzig, und auf ihrer ein wenig vorgeschobenen Oberlippe standen kleine Schweißtropfen. Obgleich ihr niemand begegnete, sprach sie unaufhörlich im Vorwärtshasten, und aus ihrem Flüstern löste sich dann und wann mit plötzlichem Vorstoße ein Wort los, dem die Angst lauten Ton verlieh … »Es ist nichts …« sagte sie. »Es hat gar nichts zu bedeuten … Der liebe Gott wird das nicht wollen … Er weiß, was er thut;
den
Glauben bewahre ich mir … Es hat ganz sicherlich nichts zu sagen … Ach, du Herr, tagtäglich will ich beten …« Sie plapperte einfach Unsinn vor Angst, stürzte die Treppe zur zweiten Etage hinauf und über den Korridor …
Die Thür zum Vorzimmer stand offen, und dort kam ihre Schwägerin ihr entgegen.
Gerda Buddenbrooks schönes, weißes Gesicht war in Grauen und Ekel ganz und gar verzogen, und ihre nahe bei einander liegenden, braunen, von bläulichen Schatten umlagerten Augen blickten blinzelnd, zornig, verstört und angewidert. Als sie Frau Permaneder erkannte, winkte sie ihr rasch mit ausgestrecktem Arme und umarmte sie, indem sie den Kopf an ihrer Schulter verbarg.
{751} »Gerda, Gerda, was ist!« rief Frau Permaneder. »Was ist geschehen! … Was bedeutet dies! … Gestürzt, sagen sie? Bewußtlos? … Wie ist es mit ihm? … Der liebe Gott wird das Schlimmste nicht wollen … Sage mir doch um aller Barmherzigkeit willen …«
Aber sie erhielt nicht sogleich eine Antwort, sondern fühlte nur, wie Gerdas ganze Gestalt sich in einem Schauer dehnte. Und dann vernahm sie an ihrer Schulter ein Flüstern …
»Wie er aussah«, verstand sie, »als sie ihn brachten! Sein ganzes Leben lang hat man nicht ein Staubfäserchen an ihm sehen dürfen … Es ist ein Hohn und eine Niedertracht, daß das Letzte
so
kommen muß …!«
Gedämpftes Geräusch drang zu ihnen. Die Thür zum Ankleide-Kabinett hatte sich geöffnet, und Ida Jungmann stand in ihrem Rahmen, in weißer Schürze, eine Schüssel in den Händen. Ihre Augen waren gerötet. Sie erblickte Frau Permaneder und trat mit gesenktem Kopfe zurück, um den Weg frei zu geben. Ihr Kinn zitterte in Falten.
Die hohen, geblümten Fensterverhänge bewegten sich im Luftzuge, als Tony, gefolgt von ihrer Schwägerin, ins Schlafzimmer trat. Der Geruch von Karbol, Äther und anderen Medikamenten wehte ihnen entgegen. In dem breiten Mahagoni-Bett, unter der roten Steppdecke lag Thomas Buddenbrook ausgekleidet und im gestickten Nachthemd auf dem Rücken. Seine halb offenen Augen waren gebrochen und verdreht, unter dem zerzausten Schnurrbart bewegten seine Lippen sich lallend, und gurgelnde Laute drangen dann und wann aus seiner Kehle. Der junge Doktor Langhals beugte sich über ihn, nahm
Weitere Kostenlose Bücher