Buddhas kleiner Finger
Wahrheit erkennen. Diese Wahrheit weiterzudenken, schrieb ich meinen Roman.
Der Tschapajew-Mythos ist allzeit eng an das sowjetische Paradigma gebunden gewesen, und viele junge Leute, die mein Buch heute lesen, sind mit dem Prototyp wenig vertraut. Die Witze über Tschapajew – ebenso wie die über Lenin, Stalin, Breshnew, Andropow, Gorbatschow etc., die ganze Schatzkammer sowjetischer Folklore, dieses Riesendepot gratis zu beziehender Beruhigungsmittel – schienen Anfang der Neunziger, als die berühmte russische Privatisierung begann, in Vergessenheit zu geraten. Es gab eine Zeit, da wurden überhaupt keine Witze mehr erzählt – eine schwere Heimsuchung für die Seele, die es gewohnt war, wenigstens einmal täglich für Sekunden der Häßlichkeit der Welt durch Lachen zu entrinnen. Ein paar Publizisten behaupteten natürlich sofort: Seht, Rußland wird endlich ein normales Land, in dem es keiner mehr nötig hat, seine psychischen Komplexe und Perversionen folkloristisch zu kompensieren.
Doch als zwei, drei Jahre vergangen waren, entstand eine neue Serie von Witzen – diesmal über die sogenannten Neuen Russen. Meines Wissens wurde der Ausdruck seinerzeit vom »Newsweek«-Magazin erfunden – in einem jener großen Rußland-Artikel, wie sie zu Beginn der Perestroika geschrieben wurden. Er hat sich auch bei uns eingebürgert, wobei Amerikaner und Russen ihn völlig verschieden verstehen. Die Amerikaner sehen im Neuen Russen eine Art Yuppie, den prosperierenden urbanen Jungprofi. Für die Russen ist der Neue Russe eine Witzfigur: ein Mann im grell himbeerfarbenen Sakko (solche waren vor einiger Zeit tatsächlich in Mode), mit Handy und Pistole, dickem Goldkettchen um den Hals, alle zehn Finger sonderbar verrenkt (Gangsterzeichensprache!). Der sozialen Zugehörigkeit nach ein Mittelding zwischen Bankier und Bandit – man könnte ihn vielleicht »Bandier« nennen.
Das Verblüffende war, daß in diesen Witzen der alte russische Mythos vom Feldkommandanten auferstand. Auch ihm, dem Neuen Russen, kann keiner. Er ist die Macht auf seinem gewählten Territorium und wird einzig von seinesgleichen in die Schranken gewiesen. Die Feldkommandeure im Bürgerkrieg der zwanziger Jahre fuhren mit sogenannten »Tatschankas« durch die Welt: geschwinden dreispännigen Kaleschen mit Maschinengewehr am Heck. Die Neuen Russen als die Feldkommandeure der Neunziger fahren – zumindest in den Witzen – ausschließlich 600er Mercedes, und im Kofferraum liegt eine MPi. Nach dem Tod von Prinzessin Diana war in sämtlichen Moskauer Revolverblättern davon die Rede, daß es die Arme in einem 600er Mercedes erwischt habe (obwohl es, glaube ich, ein 280er war) – nur dieser Tod gilt im Rußland von heute als wahrhaft königlich. Es gibt im Jargon sogar schon das Adjektiv »sechshunderter« in der Bedeutung von »stattlich«: »Boah, guck mal, was dort für eine Riesenschabe krabbelt«, könnte man einen modernen Moskauer in seiner Küche sagen hören, »eine sechshunderter!«.
Und wenn es noch eines letzten Beweises bedürfte, daß der Mythos vom Feldkommandeur die Perestroika überlebt und im Mythos vom Neuen Russen seine Reinkarnation gefunden hat, so liegt er in dem einfachen Umstand, daß viele Witze, die man sich früher über Tschapajew erzählte, kurzerhand zu Neue-Russen-Witzen umfunktioniert wurden. Der sowjetische Kosmos, wie er bis zur Perestroika existierte, jener klapprige, zahnlose Stalinismus mit Gorbatschows menschlichem Gesicht, ist bis auf die Grundfesten zerstört. Rußland ist in die Epoche der Frühzeit zurückgefallen und wieder zur Titanomachie gelangt, zum Kampf der Feldkommandeure. Und wieder herrscht in Rußland mehr oder weniger offiziell eine Ideologie, nämlich die des oligarchischen Konsumismus – bestehend in dem (reichlich naiven) Glauben, die immer exzessivere Konsumtion durch eine immer geringere Zahl von Ex-Kommunisten wäre der Weg zum simplen menschlichen Glück. Was zu Sowjetzeiten die Sichtagitation war – die verordnete Hirnwäsche, die einen dazu zwang, im Reich des Witzes Zuflucht zu suchen –, finden wir heute in der Reklame: In einem Land, wo kaum ein Mittelstand vorhanden ist und es also wenig Sinn macht, breite Kreise der Bevölkerung zum Kauf zu animieren, spielt sie eine weitgehend rituelle und ideologische Rolle.
Eine solch kühne, ja, avantgardistisch-revolutionäre Transformation des an sich harmlosen Konsumismus kann nur den erstaunen, der übersieht, daß der Kapitalismus in
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