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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Vaterländischen Krieg gewonnen. Noch davor lagen die ersten Jahre der Sowjetunion, als das Land, atemlos vor Glück und vom vielen Singen, die großen Fabriken und Elektrizitätswerke erbaute. Und davor schließlich gab es die Revolution, ein halbmythisches, transzendentes Ereignis, von dem nicht so sehr Fakten wie Bilder kündeten: zyklopenhafte Skulpturengruppen, mit Vorschlaghämmern bewaffnete Titanen oder auch (als Mosaik an den Wänden einer Metrostation) eine Schar Reiter mit Budjonnymützen, die in einer gigantischen, glutrot aufgehenden Sonne versinkt. Alles dem Sinn nach verschwommen, doch von stark aufgeladener Emotionalität. Die in der sowjetischen Öffentlichkeit allgegenwärtige sogenannte »Sichtagitation« bewirkte, daß die Geschichte nicht als Abfolge von Ereignissen, sondern als Baukasten emotionaler Codes erschien.
    Der sowjetische Gründungsmythos in all seinen Komponenten verwies auf eine sogenannte Frühzeit – die Epoche der Revolution, da die alte Welt zerstört, der alte Gott gekippt und kastriert und ein neuer auf den Thron gehoben wurde. Wiewohl diese Frühzeit, von den fünfziger, sechziger Jahren aus gesehen, chronologisch noch zur jüngeren Vergangenheit gehörte, schien sie aus der Innenperspektive des Mythos unglaublich weit entlegen. Gewissermaßen lagen die Zeiten, in denen Reiterhelden unter den Klängen revolutionärer Lieder durch die Steppen des Südens galoppierten, viel, viel weiter zurück als das Rußland eines Lew Tolstoi und sogar eines Alexander I. Der monströse Bruderkrieg der Jahre 1918-1921 hatte das Land seiner dünnen Schale von Kultur und Zivilisation beraubt; es war fürwahr eine Zeit neuer Titanomachie, da grausame, hundertarmige Wesen einander stürzten und vernichteten, Götter und Heroen miteinander rangen – und es war jene unscharfe Grenze, hinter der das Nichts gähnte und wo die Geschichte erst begann.
    Diese Art Mythologizität entsprach voll und ganz den Forderungen der Ideologie und der marxistischen Dogmatik: Die sowjetische Welt war radikal neu, nicht der vorherigen entwachsen; in deren rauchenden Trümmern hatte sie sich selbst gezeugt und geboren. Die Zeit, da sie entstand, war eine Zeit der Schöpfung. Von daher die allenthalben in der sowjetischen Kunst zu findenden Züge des altertümlichen Epos, die prähistorische Motivik.
    Eine schlüssige Erklärung, warum ausgerechnet über Wassili Tschapajew die meisten und beliebtesten Witze im sowjetischen Rußland kursierten, gibt es nicht. Der historische Feldkommandeur kann sicher am allerwenigsten dafür. Vielleicht kam jener senile Oberst a. D. dem Kern der Sache am nächsten, der uns damals in der Schule die vormilitärische Ausbildung erteilte. »Ich weiß, ihr erzählt euch immerzu diese Witze über Tschapajew und Petka«, sagte er und rollte vor der verstummten Klasse mit den Augen. »Habt ihr eine Ahnung! In den dreißiger Jahren organisierte sich in Paris extra eine große Spionagegruppe aus weißen Emigranten, die das siebenbändige ›Lexikon des Humors der Völker‹ gewälzt und alle Witze, die sich einigermaßen verwenden ließen, auf Tschapajew und Petka umgeschrieben hat. Das sind die durchtriebensten Formen der ideologischen Aggression: Scherz und Ironie.«
    Wenn wir von der Spionagegruppe einmal gnädig absehen wollen, steckt in diesen Worten eine tiefe Wahrheit. Bedenkt man, daß die gesamte Heldenmythologie aus sowjetischer Frühzeit auf Legenden von Feldkommandeuren basierte, so rührten die Tschapajew-Witze durchaus an die Wurzeln. Die Infiltration des sowjetischen Mythos ins Bewußtsein und seine Destruktion gingen praktisch einher. Der Tschapajew der Witz-Folklore ankerte im Bewußtsein der meisten jungen Leute sogar früher als der Film- oder Romanheld, und das bestimmte die Art und Weise, in der Film und Buch rezipiert wurden. Kaum eine Filmszene, die nicht in irgendeinem Witz ihr Zerrbild gefunden hätte. Und umgekehrt wird jedesmal, wenn Russen einen neuen Tschapajew-Witz hören, das kleine Filmstudio im Kopf in Betrieb genommen, und in dem Schwarzweißclip, der da abläuft, sind die altbekannten Filmgesichter zu sehen.
    Da gibt es im Film zum Beispiel die berühmte Szene, in der Tschapajew seinem Politkommissar mit Hilfe einer Anzahl Kartoffeln strategischen Nachhilfeunterricht erteilt. Der dazugehörige Witz geht so: Tschapajew und Petka müssen im MG-Feuer der Weißen den Uralfluß durchschwimmen. Tschapajew ist nahe daran zu ertrinken, läßt aber seinen kleinen

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