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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Speisekarte hin.
    »Was darf s sein?« fragte er.
    »Ich möchte nichts essen«, erwiderte ich, »aber einen kleinen Wodka hätte ich gern. Für die innere Wärme.«
    »Smirnoff? Stolitschnaja? Absolut?«
    »Absolut«, entschied ich. »Und dazu hätte ich gern … wie soll ich sagen … etwas Enthemmendes.«
    Zweifelnd sah der Kellner mich an, drehte sich dann nach dem gelbbefrackten Türsteher um und tat eine abgefeimte Handbewegung. Der Gelbfrack nickte kurz, worauf sich der Kellner zu mir herunterbeugte und in mein Ohr wisperte:
    »Psilozybin? Barbiturate? Ecstasy?«
    Ein, zwei Sekunden suchte ich diese fremdartigen Kürzel gegeneinander abzuwägen.
    »Ach, wissen Sie, wenn Sie mir die Ekstase im Absoluten auflösen könnten … Das wär genau das richtige.«
    Noch einmal wandte sich der Kellner nach dem Gelbfrack um, hob kaum merklich die Schultern und drehte den Zeigefinger an der Schläfe. Der Türsteher verzog wütend das Gesicht und nickte erneut.
    Ein Aschenbecher erschien auf meinem Tisch, dazu eine Vase mit Papierservietten. Letzteres kam mir sehr gelegen. Ich zog den Füller aus der Tasche, den ich Sherbunow stibitzt hatte, nahm eine der Servietten und wollte zu schreiben beginnen, als ich bemerkte, daß da, wo die Feder am Ende des Schreibgerätes hätte sitzen müssen, ein kleines Loch klaffte; das Ganze sah nach einem gestutzten Miniaturpistolenlauf aus. Ich schraubte den Füller auf, eine kleine Patrone mit einer schwarzen Bleikugel ohne Ummantelung fiel auf den Tisch – wie die, die man vor der Revolution mit den »Montechristo«-Kindergewehren zu kaufen bekam. Diese schlaue Erfindung kam mir nun noch gelegener – ohne den Browning in der Hosentasche hatte ich mich schon wie ein Scharlatan gefühlt. Ich setzte die Patrone sorgfältig wieder ein, schraubte den Füller zusammen und bat den blassen Bediensteten im gelben Frack, mir ein Schreibgerät zu bringen.
    Der Kellner kam mit dem Tablett, auf dem ein Glas stand.
    »Ihr Getränk.«
    Ich kippte den Wodka hinter, bekam vom Gelbfrack einen Füllfederhalter zugesteckt und machte mich ans Werk. Zunächst wollten die Worte nicht recht fließen; nach einer Weile jedoch begannen mich die klagenden Orgeltöne zu becircen, stachelten mich an, und binnen zehn Minuten war der passende Text fertig.
    Der bärtige Sänger war unterdessen von der Bühne verschwunden. Ich hatte den Moment seines Abgangs verpaßt, weil die Musik nicht aufgehört hatte. Sonderbar: Ein ganzes unsichtbares Orchester spielte, zehn Instrumente oder mehr, ohne daß irgendwelche Musiker zu sehen waren. Um ein Radio, an dessen Existenz ich mich in der Anstalt gewöhnt hatte, konnte es sich ebensowenig handeln wie um eine Grammophonaufzeichnung – der Klang war sehr rein und keinesfalls technisch reproduziert. Meine Konfusion legte sich erst, als mir der Gedanke kam, daß es wohl das vom Kellner gereichte Elixier war, das zu wirken anfing.
    Ich lauschte der Musik und bekam auf einmal deutlich ein paar englische Textzeilen mit; eine heisere Stimme intonierte sie irgendwo dicht neben meinem Ohr:
    … You had to stand beneath my window
with your bugle and your drum
while I was waiting for the miracle –
for the miracle to come …
    Ich erschrak.
    Es war das Zeichen, auf das ich gewartet hatte. Die Worte »miracle« und »drum« (was sich unmißverständlich auf Kotowski bezog) sowie »bugle« (was man nicht weiter kommentieren mußte) ließen keinen Zweifel zu. Es hatte keinen Sinn, noch länger in diesem verräucherten Saal zu hocken. Ich erhob mich und wankte durch das pulsierende Aquarium des Zuschauerraums gemächlich in Richtung Bühne.
    Die Musik brach ab, was gut für mich war. Ich erklomm die Bühne, stützte mich auf das Orgelbrett, das prompt mit einer unangenehm jaulenden Note antwortete, und schaute hinunter in den erwartungsvoll verstummten Saal. Das Publikum schien sehr gemischt, doch waren, wie es in der Geschichte der Menschheit alleweil zu sein pflegt, schweinsgesichtige Spekulanten und teuer ausstaffierte Huren in der Überzahl. Die Gesichter, die ich erkennen konnte, verschmolzen zu einem einzigen, das liebedienernd und nichtsdestoweniger frech zu mir heraufsah, eine erstarrte Grimasse unterwürfiger Selbstzufriedenheit – es war, ganz ohne allen Zweifel, das Gesicht der alten Wucherin, von anderem Fleisch und Blut zwar, doch lebendig wie ehedem. Vor der Portiere am Eingang hatten ein paar Jungen in Matrosenanzügen und mit frostroten Gesichtern Posten bezogen; sie

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