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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Doch scheint uns schon die Tatsache, daß vorliegendes Manuskript aufgefunden werden konnte, beredt von einem neuen Kräfteverhältnis auf dem Kontinent zu zeugen.
    Noch ein letztes. Den Titel des Originaltextes (»Wassili Tschapajew«) haben wir in »Buddhas kleiner Finger« geändert, um Verwechslungen mit jener weitverbreiteten Fälschung aus dem Weg zu gehen. Neben dem von uns gewählten Titel gab es im übrigen noch vier weitere Vorschläge des Redakteurs: »Tschapajew und Pustota«, »Das tönerne Maschinengewehr«, »Die Pfade des sich verzweigenden Gärtners« und »Der schwarze Überzieher«.
    Möge dieser Text dem Wohle aller Lebewesen auf Erden dienen.
    Gate gate paragate parasamgate bodhi svaha.
     
    Urgan Dschambon Tulku VII.,
Vorsitzender der Buddhistischen Front der
Vollständigen und Endgültigen Befreiung (VEB[B])

1
    Der Twerskoi-Boulevard war beinahe genau so, wie ich ihn vor zwei Jahren zum letztenmal gesehen hatte. Wieder Februar, Schneewehen und eine seltsam ins Tageslicht sickernde Finsternis. Auf den Bänken hockten dieselben reglosen Weiblein wie damals. Oben über dem schwarzen Geflecht der Zweige derselbe graue Himmel – eine alte, verschlissene Matratze, die unter dem Gewicht des schlafenden Gottes bis auf die Erde durchhing.
    Einen Unterschied gab es allerdings. In diesem Winter fegte ein Schneesturm durch die Alleen, wie man ihn eigentlich nur aus den Steppen kannte, und wäre ich ein paar Wölfen begegnet, hätte mich das nicht gewundert. Der bronzene Puschkin erschien einem noch eine Spur trauriger als sonst – was wohl daher kam, daß ihm ein rotes Tuch mit der Aufschrift Es lebe der 1. Jahrestag der Revolution vor der Brust hing. Zu ironischen Betrachtungen darüber, daß hier ein Jahrestag zu leben aufgefordert und das Wort »Revolution« noch auf vorrevolutionäre Weise geschrieben war, verspürte ich keine Lust – hatte ich doch in letzter Zeit genug Gelegenheit gehabt, dem Dämonen, der sich hinter all diesem kurzgefaßten Stuß auf rotem Grund verbarg, ins Gesicht zu schauen.
    Es dämmerte schon. Das Strastnoi-Kloster war im Schneegestöber kaum zu erkennen. Auf dem Platz davor standen, umwogt von einer Menschenmenge, zwei Lastwagen mit hohem, leuchtend rot bespanntem Verdeck; eine Sprecherstimme schallte herüber, ich verstand so gut wie nichts, doch der Tonfall und das wie ein Maschinengewehr hämmernde »Rrrr« in den Wörtern »Proletariat« und »Terror« ließen keinen Zweifel, worum es ging. Zwei betrunkene Soldaten überholten mich, Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten über den Schultern. Die Soldaten hatten es eilig, auf den Platz zu kommen, doch nach einem dreisten Blick zu mir herüber verlangsamte einer von ihnen den Schritt und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen; zum Glück (seinem und meinem) zerrte ihn der andere am Ärmel, und sie trollten sich.
    Ich machte kehrt und lief rasch den Boulevard hinab, dabei grübelte ich, wieso dieses Pack bei meinem Anblick immer mißtrauisch wurde. Gekleidet war ich zugegebenermaßen unvorteilhaft und geschmacklos – ich trug einen schmutzigen englischen Mantel mit breitem Rückengurt, eine Militärmütze à la Alexander II. (natürlich ohne Kokarde) und Offiziersstiefel. An meinem Aufzug allein konnte es allerdings nicht liegen. Ringsum gab es genügend Leute, die weit wunderlicher aussahen als ich. Zum Beispiel hatte ich auf dem Twerskoi einen von allen guten Geistern verlassenen Herrn mit goldener Brille gesehen, der, eine Ikone vor sich her tragend, auf den düsteren, menschenleeren Kreml zustrebte – niemand schenkte ihm Beachtung. Ich hingegen zog in einem fort schräge Blicke auf mich, und jedesmal fiel mir ein, daß ich weder Geld noch Papiere besaß. Tags zuvor hatte ich mir auf dem Bahnhofsklosett eine rote Schleife an die Brust geheftet, doch sogleich wieder entfernt, als ich mich damit im gesprungenen Spiegel sah; mit der Schleife wirkte ich nicht nur bescheuert, sondern doppelt verdächtig.
    Möglich außerdem, daß in Wahrheit keiner seinen Blick länger auf mir ruhen ließ als auf irgendeinem anderen; meine angespannten Nerven und die Angst vor der Verhaftung mochten schuld sein. Nicht, daß ich den Tod fürchtete. Vielleicht war er ja bereits eingetreten, so mein Gedanke, und dieser vereiste Boulevard, den ich entlangging, war der Vorhof zum Schattenreich. Sowieso hatte ich schon früher die Idee gehabt, daß die russischen Seelen den Styx wohl überqueren müssen, wenn er zugefroren ist, und die

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