Buddhas kleiner Finger
Koffer nicht los. »Laß doch den Koffer los«, schreit Petka, »wir ertrinken!« Darauf Tschapajew: »Geht nicht, Petka! Da sind die Generalstabskarten drin!« Wie durch ein Wunder entrinnen sie dem Tod und kriechen ans andere Ufer. Petka macht den Koffer auf und sieht, daß er voller Kartoffeln ist. »Wo sind denn die Generalstabskarten?« – »Das sind sie doch«, sagt Tschapajew und nimmt in jede Hand eine Kartoffel. »Das da sind wir. Und das die Weißen.«
Die Witze über Tschapajew machen vor den realen Grenzen der Sowjetepoche nicht halt. Sie handeln überall und zu allen Zeiten. In einem zum Beispiel kommt der Papst zum sterbenden Fantomas, will ihm seine Sünden vergeben und sieht, es ist Petka – und er selber ist natürlich Tschapajew. In einem anderen brüstet sich Tschapajew vor Petka, er habe jetzt einen Job als Musiker bei den Beatles: Wenn sie »Come Together« spielen, muß er den Säbel vor dem Mikrofon schwingen, und es macht dieses »Tschschscht«.
Tschapajew und Petka sind so etwas wie die Projektion des kurzlebigen sowjetischen Kosmos auf das unendliche Universum.
Ein beträchtlicher Teil der Witze von Tschapajew und Petka ist höchst unanständig. (Vielleicht war es gerade das, was sie bei Kindern so beliebt machte und für ihre lauffeuerhafte Verbreitung sorgte.) Doch hat diese Obszönität eine tiefere Bedeutung: Unterschwellig verweist sie auf die Erbsünde der sowjetischen Welt, gezeugt durch unreines Blut, inmitten von Tod und Verderben. Und der schwarze Dreck, den es in einem Witz aus den Fußlappen Tschapajews in den Ural schwemmt, ist in Wirklichkeit der, mit dem die sowjetische Erbsünde das Leben in der Sowjetunion für alle Zeiten vergällt hat. Der Ursprung der schönen neuen Welt war unrein, und diese Unreinheit war letztlich die Ursache für ihren Untergang.
Von den vielen Göttern und übernatürlichen Wesen des alten Tibet weiß man, daß die Gläubigen sie nicht unbedingt für real oder objektiv existent hielten; gebildete Lamas vergleichen sie gern mit psychischen Akkumulatoren. Erst durch das gemeinsame Beten vieler erhalten sie ihre Energie – diese Aufladung durch die Hoffnung und den Glauben der Massen ist es, was den Gott zum Gott macht. Ähnliches ließe sich über unseren Tschapajew sagen. Einen Witz über ihn zu erzählen oder erzählt zu bekommen war eine Art gesamtnationales Gebet, und daraus ging ein Tschapajew-Bild hervor, das seine blassen historischen, literarischen und kinematographischen Doppelgänger an Authentizität weit übertraf. Dieser andere Tschapajew kann wohl als eine der wenigen Geistesgeburten gelten, die dazu angetan waren, Rußland »höheren Orts« zu repräsentieren – und dabei waren Witze und Film für diesen virtuellen Tschapajew Attribute wie der Koran für Allah.
In der Triade von Buch, Film und folkloristischer Überlieferung ist ein Element den anderen weit unterlegen – Furmanows Roman »Tschapajew«, ein Frühwerk des sozialistischen Realismus. Er ist leider furchtbar langweilig – für Generationen von Slawistikstudenten ein Graus. (Dabei entbehren die äußeren Umstände nicht einer gewissen Pikanterie. Dmitri Furmanow war seinerzeit Politkommissar des realen Tschapajew und litt an dem Mann, dem er später ein Denkmal setzte, über alle Maßen. Wie seine unlängst veröffentlichten Briefe an Tschapajew offenbaren, hatte Furmanows Ehefrau Anna ein heimliches Verhältnis mit Tschapajew. In dem Roman – 1923, also vier Jahre nach Tschapajews Tod geschrieben – findet sich davon selbstverständlich kein Wort.)
Ich ging für meinen Tschapajew-Roman von folgender Überlegung aus: Was, wenn man einmal eine Art Anti-Extrapolation anstellte und die »Verarbeitungslogik« des »sozrealistischen« Textes umkehrte, indem man sich eine Welt edler, erhabener Leute ausmalte, deren Andenken durch zahllose Fälschungen und Verdrehungen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt worden ist? Wenn der sowjetische Mythos nicht der Lack auf einer ungestalten Wirklichkeit, sondern im Gegenteil die Verzerrung und Fälschung einer heroischen, grandiosen Wahrheit wäre? Wenn sich hinter dem süßlichsentimentalen Vorzeigekommunisten namens Tschapajew nicht der grobschlächtige Säbelheld verbärge, den in trunkenem Zustand die Kugel eines Unbekannten traf, sondern ein geheimnisumwitterter, ungreifbarer buddhistischer Meister, der Leben und Tod bezwingt? Dann dürfte man die Tschapajew-Witze als blasphemische Zeugnisse einer anderen, seltsamen, sperrigen
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