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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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einigen Schichten Mull war die Abwesenheit des kleinen Fingers zu ahnen.
    Ich bekam zunächst kein Wort heraus; die Kraft reichte gerade noch, um mich auf die Bank fallen zu lassen. Tschapajew war sofort im Bilde. Er schlug die Tür zu, sprach leise etwas in den Hörer, und der Panzerwagen fuhr an.
    »Was macht die Kunst?« fragte er.
    »Ich weiß nicht. Das Innenleben hat so viele Widersprüche … In dem Wirbel von Klängen und Farben findet man sich schwer zurecht.«
    »Kann ich verstehen«, sagte Tschapajew. »Übrigens, schönen Gruß von Anna. Ich soll dir das hier geben.«
    Er beugte sich nach vorn, griff mit der gesunden Hand unter den Sitz und stellte eine leere Flasche mit einem quadratischen Stück Goldfolie als Etikett auf den Tisch. Aus dem Flaschenhals ragte eine gelbe Rose.
    »Sie sagte, du würdest das schon verstehen«, erklärte Tschapajew. »Und außerdem hättest du ihr irgendwelche Bücher versprochen.«
    Ich nickte, drehte mich zur Tür und preßte das Auge gegen den Spion. Anfangs sah ich nur, wie sich die blauen Lichtpunkte der Laternen durch die klare Frostluft schoben. Doch wir legten an Tempo zu – und bald, sehr bald knirschte der Wüstensand, und es rauschten die Wasserfälle meiner heißgeliebten Inneren Mongolei.
     
    Kafka-Jurte
1923-1925

Der Mythos vom Feldkommandeur
    oder: Wer war Wassili Tschapajew?
     
    Anstelle eines Nachworts
     
    Hinter Wassili Tschapajew verbergen sich vier grundverschiedene Personen. Da wäre zunächst der realhistorische Träger dieses Namens, ein Offizier in der Roten Armee, der anno 1919 mit seiner Truppe im Vorland des Uralgebirges gegen die Weißen kämpfte. Zweitens die Hauptfigur aus einem gleichnamigen Film der Gebrüder Wassiljew in den dreißiger Jahren, einem der bedeutendsten und beliebtesten sowjetischen Filmklassiker. Drittens kennen wir Wassili Iwanowitsch Tschapajew aus einer zu Sowjetzeiten weitverbreiteten Endlosserie von Witzen, worin außer ihm noch sein Adjutant Petka, Kommissar Furmanow und die schöne Maschinengewehrschützin Anka vorkommen. Und viertens gesellt sich der literarische Held zweier Tschapajew-Romane dazu. Den einen schrieb in den zwanziger Jahren Dmitri Furmanow, der zuvor Politkommissar des authentischen Tschapajew gewesen war. (Sein Buch diente dem Film der Wassiljews im weitesten Sinne als Vorlage.) Den anderen habe ich geschrieben – oder sagen wir, auch in meinem Buch gibt es eine handelnde Person, die Wassili Tschapajew heißt.
    Ein militärischer Vorgesetzter im modernen Sinne ist jener authentische rote Kommandeur Tschapajew beileibe nicht gewesen – eher ließe er sich, mit einem heutigen Begriff, als Feldkommandeur bezeichnen. Dieses Wort kam bei uns erstmals zu Zeiten des von Breshnew angezettelten Afghanistan-Krieges auf und feierte jüngst während des Tschetschenien-Krieges fröhliche Urständ in sämtlichen Zeitungen und Nachrichtenprogrammen. Ein Feldkommandeur ist das Machtzentrum eines bestimmten, flexiblen Territoriums, dessen Grenzen in der Regel in Sichtweite liegen und das er sozusagen als mobiles kleines Fürstentum mit sich führt. Theoretisch ist der Feldkommandeur höheren Chargen in der militärischen Rangordnung unterstellt, in der Praxis jedoch ist diese Unterstellung relativ und unerheblich, denn handeln muß er stets unter den Bedingungen totaler Anarchie und Unsicherheit, mehr noch: Das Auftauchen von Feldkommandeuren ist gerade ein Symptom dafür, daß Chaos herrscht. Sie sind dazu da, der Entropie die Stirn zu bieten, wieder Ordnung ins Leben zu bringen, wenn auch mit ziemlich blutigen Methoden. Ich las einmal in der Zeitung eine hübsche Liste (sie hätte von Borges stammen können), die dem Feldkommandeur folgende typische Eigenschaften zuschreibt: tapfer, ungebildet, reaktionsschnell, stotternd, naiv und grausam.
    Warum hat die Figur des Feldkommandeurs einen solch gewichtigen Platz in der sowjetischen Mythologie inne? Zur Erklärung bediene ich mich ungern abstrakter Konzepte, lieber vertraue ich dem persönlichen Erfahrungs- und Erlebnisschatz meiner Moskauer Schulzeit. Geboren in den Sechzigern, bezog ich erste Unterweisungen zur Geschichte meines Landes nicht aus Lehrbüchern, sondern aus der Visualkultur meiner alltäglichen Umgebung. Und da sah die Vergangenheit so aus: Erst kurze Zeit war es her, daß wir das Weltall erobert, alles Irdische hinter uns gelassen und uns für alle Zeiten in der Ewigkeit angesiedelt hatten. Davor hatten wir den furchtbaren und heroischen Großen

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