Büchners Braut: Roman (German Edition)
unvermittelt eine Bemerkung machte, eine Episode erwähnte, von »ihm« sprach, meist ohne den Namen zu nennen, als spreche sie von einem kürzlich Verstorbenen.
Nach all den Jahren auf einmal dieser Frieden. Woher dieser Gleichmut?, fragte Boeckel Charles Schmidt. Ob wir es unter diesem freudigen Stimmungswandel wagen könnten, Mademoiselle Jaeglé von dieser Veröffentlichung zu erzählen?
Er meinte die Franzos-Ausgabe »Büchner’s sämmtliche Werke«, frisch erschienen. Ein hübsches Bändchen.
Doch Charles zeigte sich völlig ablehnend. Gott bewahre, entsetzte sich Julie. Niemand soll meiner Cousine jemals mehr mit derlei Dingen kommen. Soll sie den Zorn und die Verbitterung noch einmal fühlen, wie vor Jahrzehnten? Ihre innigsten Angelegenheiten ans Licht gezogen! Nein, nein, glauben Sie mir, ich sorge dafür, niemand soll etwas von ihr wollen oder gar bekommen.
Damit machte sich die gebückte graue Gestalt hinauf zu Minna, rief auf halber Treppe zurück: Daran würde sie sterben.
Boeckel gab sich geschlagen. Aber als ob den Alten und Siechen ein sechster Sinn eigen wäre, den man auchKindern nachsagte, die wussten und rochen und ahnten, worum es ging, war Minnas erster Satz, nachdem Julie eintrat: Er fragte manchmal, ob wohl das Münster wieder je ganz auf deutschem Boden stehen würde. Na, nun hat er es! Und was ist gut daran?
Minna, wir sollten dein Bett machen.
Sie wissen doch gar nichts von ihm. Uns, uns müsste man fragen, die ihn hier kannten! Ob das dieser Mensch aus Wien weiß? Der Boeckel? Hat er den Boeckel auch gefragt? Der erzählt ja gerne.
Minna setzte sich nach Julies Mahnen hin auf. Ja, ja, ist ja gut. Bald sind wir hier ein Siechenhaus.
Sie lachte. Julie begann zu weinen.
***
Das Bett steht in anderem Winkel zum Fenster, die Entfernungen zu Tisch und Sessel sind weiter, es riecht zu klar nach frischem Leinenzeug und Bohnerwachs, nicht wie oben nach Tee, Holzkohle und Staub in den Teppichen. Sie meinen es gut, halten alles sauber. Das wenige an Veränderung genügt und die ganze Welt ist fremd. Gewiss, Minna kennt den Weg hinaus, bemüht sich redlich nun endlich, da der Weg kurz und treppenlos geworden ist, die Gottesdienste zu besuchen. Aber nur wenige Wochen geht dies ohne Begleitung, dann wollen die Füße nicht mehr so gut. Ein Sturz genügte ja, einen zweiten sollte man vermeiden. Julie, wo bleibt sie? Man sagt ihr, Julie müsse ebenfalls das Bett hüten.
Das Hausmädchen schaut nach Minna, oft, sooft es geht.
Adele?
Nein, Mademoiselle, ich heiß nicht Adele.
Das Badewasser. Es ist Zeit, Adele. Kann ich baden?
Darauf folgt keine Antwort, aber ein Lappen, mit lauwarmem Wasser getränkt, fährt ihr übers Gesicht, dann die Arme entlang, den Rücken, und alles darunter kommt zum Schluss. Es ist kühl. Jemand sagt: Sie wird bald siebzig. Das muss die Ida sein, die zu Besuch kommt und hilft. Siebzig ist eine runde Zahl, sagt Minna, somit wird es November sein. Geburtstag, und die Adele, die nicht die Adele sein will, nickt eifrig.
Vor ihrem Fenster ist der braun belaubte Ast einer Buche zu sehen. Heuer hält sich das Laub lange an den Bäumen. Der Blickwinkel hinaus zu den Ästen ist dem aus ihrem Zimmer in Barr ähnlich, und sie sagt: Ich sollte nach Barr reisen, dort ist es hübscher, und ich muss auf dem Friedhof meine Schwester besuchen. Es ist aber der Gedanke an Nebel und Wind, der sie niederdrückt in ihre Kissen. Nein, die Reise sollte verschoben werden.
Sie möchte hinten in den Obstgarten hinaus, wo über den Ästen ein Streif Himmelblau lockt, in Barr, hinauf zum Kirchhof, an den Weinstöcken vorbei zum Gottesacker. Der Vater sagte gern Gottesacker. Es hatte sie belustigt, dieses Bild, der Herrgott als Bauer mit Pflug über dem Acker. Vater, was redest du? Weinberg, so sagt man auch, im Weinberg des Herrn arbeiten. Das Gleichnis von den Arbeitern, die alle den gleichen Lohn erhielten. Darüber hatte sie immer gern gesprochen.
Auch die, die nur eine Stunde gearbeitet hatten, sagt sie, bekamen einen Silberling.
Die freundliche Antwort kam von dem jungen Menschen, einem Arzt, der oft mit Boeckel vorbeischaute, den Minna aber nicht leiden mag. Es passen keine neuenMenschen in meinen Kopf hinein, erklärt sie so rücksichtsvoll, als es ihr möglich ist mit der gebrochenen, krächzenden Stimme. Ich lasse keinen mehr hinein, habe die Grenzbäume fest verschlossen, auch kein Flüchtling kommt hindurch, sollte er noch so jammern.
Der Wilhelm Baum, sagen Sie, Boeckel, wie
Weitere Kostenlose Bücher