Büchners Braut: Roman (German Edition)
lange ist der schon tot?
Zwei Jahre schon, sagt der Freund und verabschiedet sich, und als sie wieder fragt, ist Baum noch immer zwei Jahre tot. Es gibt keine Zeit mehr. Womöglich wird bald der hohläugige Christus vom toten Weltgebäude herab eine Rede halten und verkünden, dass der Himmel leer ist. Wir mochten solche Geschichten, mein Bruder und ich, aber der Vater sollte das nicht wissen. Louis-Théodore, der gute Theo, der zerlegte dann die Welt in ihre chemischen Einzelteile. Auch ein spaßiges Ideal, wenn man sonst die Langeweile nicht vertreiben kann, meinte der Bruder. Aber nein, das mit der Langeweile war der andere, der mit der hohen Stirn und den wirren Locken. Der meinte, manche Menschen würden aus Langeweile beten. Ich sah es ihm nach, da er leider recht hatte, wenn man es bedenkt. Seit der zu uns ins Haus kam, war es heiter, und ich nannte ihn bald George. Es war unser Geheimnis, er liebte es so.
Drei Streifen Licht brechen draußen durch die Äste, die Sonne ist noch nicht ganz ausgeblasen, reicht sogar in die schmale Gasse. Und der Lichtschein dahinter? Mögen es Lichter in den Scheiben dort drüben sein. Es ist so dunkel, das Jahr geht auf die Wintersonnenwende. Ist dann die Christmesse, wollen wir sehen, ob sie die alte Mademoiselle Mimi noch in die Kirche bekommen. Ob sich die Leute hier bald die Zitronen unter die Nasehalten müssen, interessiert mich einstweilen nicht. Man verläuft sich ja so leicht, besonders im Weinberg. Die Rebstöcke, gerade mal so hoch, seht ihr, da konnte ich selbst mit zehn Jahren noch nicht drüberschauen, und wenn alles um einen herum nur Laub und Blatt und Traube ist, wenn da die Mutter nicht gekommen wäre! Besser, man geht nicht weg, nein, das Reisen ist zu aufwendig. Ich bleibe. Hier in Straßburg. Immer wieder Straßburg. In meinem Leben ist nichts passiert. Nur einmal war ich verlobt, mit diesem jungen Mann, der tolles Zeug redete. Jetzt ist im Fenster das Licht in eine Ecke gerutscht, ein roter Streif, dahinter geht ein weißes Leuchten auf, das bläulich glänzt und wogt zur anderen Seite. Jetzt geht es. So hatte ich es auch in Zürich gesagt, als das Nordlicht vorbeiging. Als es von einer dunklen Kugel zerschnitten wurde, und nach Mitternacht war es vorbei. Der Morgen war dunkel, und am Nachmittag ging das Leben zu Ende.
Die Schmerzen sind vorbei. Alles taub. Alles still. Es ist nur das Herz. Das Herz mag nicht mehr. Es wird stehenbleiben. Auch nur ein Tod von vielen.
Addio, piccola mia.
Am 14. Dezember 1880 starb Minna.
Nachwort
Gibt es über die Frau neben oder hinter einem historisch bedeutsamen Mann genügend Material, wird sie ans Licht der Wissenschaft gezogen, in der Regel aber nur, um Zusätzliches über die »eigentliche« Person zu erfahren. Sind die Nachrichten über sie dürftig, begnügt man sich nicht selten mit ebenso dürftigen Klischees.
Dies gilt auch für Minna Jaeglé, die sich 1832 mit Georg Büchner verlobte. Als »Büchners Braut« gehört sie zu seiner Biographie, eine Komparsin seines Lebens, Lieferantin einiger der wichtigsten Schriften Büchners, nicht zuletzt seiner »Brautbriefe« an sie.
Geboren wurde Minna am 15. November 1810, abends um 10 Uhr, wie es ihr Vater im Taufregister für sein erstes Kind vermerkte, in der Rue de la Chaine No. 1 in Straßburg. Ihr Vater taufte sie und trug als ihren Namen Louise Wilhelmine ein.
Seine Pfarrstelle hatte Jaeglé in Scharrachbergheim inne, einem kleinen Ort, fünf Stunden Fußweg westlich von Straßburg. Später bekam er Ämter in Goxwiller und Barr zugewiesen, südlicher und dichter an den Vogesenausläufern gelegen. 1826 zog die Familie endgültig nach Straßburg, wo der Vater an der Wilhelmerkirche sein letztes Pfarramt antrat.
Jahre später, als keiner mehr aus der Familie um sie war, lebte Minna vier Jahre in Mainz als Gouvernante. Dieser Beruf bot bürgerlichen Frauen ihrer Zeit die Möglichkeit,außerhalb der Familie ein eigenes Stück Sicherheit zu ergattern. Sonst ist nichts darüber bekannt, dass sie sich längere Zeit außerhalb Straßburgs aufgehalten hätte.
Es ist wenig passiert im Leben der Minna Jaeglé, und so war ein Hinweis von Ann-Marie Hickel in Barr sehr wertvoll. Während der Amtszeit ihres Vaters in Barr an St. Martin wurde Minna vom Vikar Rauscher unterrichtet. Dessen Frau war eine Tochter Johann Friedrich Oberlins und führte den Kleinkinderunterricht nach den von ihrem Vater festgelegten Statuten seiner Anstalten. Es liegt nahe, dass Minna hier ihre
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