Buerger, ohne Arbeit
Vorgeschichte weiß er nur das zu memorieren,
was zu seinem neuen Selbstbewußtsein paßt: Reform als »Wiederherstellung« des rechten Maßes, des ursprünglich gemeinten Sinns,
als Rücknahme von Wohltaten, die im Überschwang erwiesen wurden. (§ 25.1) Der Staat in dieser abgemagerten Version ignoriert
die »selbstverschuldete« Not, springt nur noch dem zur Seite, der ohne eigene Verfehlung im Elend haust. Die Reform ist unter
die (konservativen) Verleugner und Verächter eines großen und bewundernswerten Erbes geraten. Der konservative Reformist,
der noch als Oppositioneller im Geiste mitregierte, auf gesellschaftliche Integration durch sozialen Ausgleich bedacht, kämpft
im eigenen Lager längst mit seinem schlechten Image; eine anachronistische Figur, die peinliche Erinnerungen weckt.
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§ 31 Staatshaß und Bürgersinn; das Leben als Melodram
1. Von kurzen Gegenschüben abgesehen, verschrieben sich die (preußisch-)deutschen Reformer seit nun annähernd zweihundert
Jahren dem ganzheitlichen »Verbessern« der sozialen Zustände, packten sie die soziale Frage »zuversichtlich« an, sei es zeitweise
auch um imperialer Projekte willen. Dieser parteiübergreifende Sozialdemokratismus der inneren Befriedung bildete bis in die
jüngste Vergangenheit den Fokus jeglicher Reformpraxis, mochte die jeweilige Regierung nun rechts oder links von der bürgerlichen
Mitte angesiedelt sein. 247 Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg gab es diesbezüglich keine ernsten Kontroversen. Die politische Antwort auf die Weltwirtschaftskrise
erfolgte in Deutschland zeitlich verzögert, dann aber desto einhelliger. Christ- und Freidemokraten, die Sozialdemokratie
nach Godesberg und später auch die Grünen verständigten sich auf die soziale Marktwirtschaft, auf den Rheinischen Kapitalismus,
auf Verteilungsgerechtigkeit, politische und soziale Grundrechte, auf allgemeine Bildung und kulturelle Teilhabe. Einflußreiche
Sozialstaatsfraktionen prägten das Profil der großen Volksparteien und zu Zeiten der sozialliberalen Koalition auch den Charakter
der FDP.
Die »Entsozialdemokratisierung« der politischen Landschaft bedeutet hierzulande noch immer eine Arbeit. Nach innen müssen
»sozialistische Starrköpfe« diszipliniert oder ausgemustert werden, nach außen schwört man das Publikum mit propagandistischem
Großaufwand auf die neue Lehre ein. Der forcierte Staatshaß soll den Affekt gegen den »Dritten«, gegen Staat und »Bürokratie«,
bis in die letzte Stube tragen. Bündnispartner, auch ungewöhnliche, sind dabei höchst willkommen. Antistaatliche Affekte sickerten
noch in der alten Bundesrepublik in linksliberale Denktraditionen ein. Namhafte internationale Kritiker der »Sozialisierung«
und des »vergesellschafteten« Menschen fanden in der deutschen Öffentlichkeit große Resonanz. 248 Staatliche |239| Macht wurde als »Steuerungsmedium« thematisiert, das die »Lebenswelt« kolonialisiere und zersetze wie das Geld. 249 Den Ausweg wiesen, wie im US-amerikanischen Kommunitarismus, autonome Gemeinschaften. Sie heilten die »Zerrissenheit des
Sozialen«, kurierten dessen »Pathologien«.
2. Es gibt, wer wollte es bestreiten, ein Zuviel an staatlicher Regelung und Verordnung, auch auf dem Gebiet des Sozialen
(worunter die Bedürftigen allerdings in gesteigerter Weise leiden: Offenbarungszwang, Bevormundung, Klientenstatus), Fälle
zielblinder und überschwenglicher Staatsintervention. Auch der »zivilisierte«, das heißt gesellschaftlicher und öffentlicher
Kontrolle unterworfene Staat kann sein Geburtsmal nicht verbergen – Annexion der Souveränität, einzig legitime Form physischer
Gewaltanwendung –, insofern gilt: »Jeder Staat hat etwas von einem Schurkenstaat«; 250 auch als »Dritter« bleibt der Staat im Notfall »Erster«. Dennoch rechtfertigt das keine abstrakte, allumfassende Verdächtigung,
gar Verwerfung sozialstaatlichen Handelns. Untauglich auch der Versuch, einen neuen »Dritten« zu kreieren, besser: neue Dritte,
kleine Kommunen, die die Individuen aus der Umklammerung staatlicher Vormundschaft befreien und wieder zu selbstverantwortlichen
Akteuren emanzipieren.
Es ist ein grober Denkfehler, Staat und Markt als einander ebenbürtige Widersacher der sozialen Praxis anzusehen; das mag
für den Machtstaat gelten, für den demokratischen gilt es nicht. Gleichwohl lanciert man den Verdacht, der Sozialstaat unterbreite
den Menschen das unmoralische
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