Buerger, ohne Arbeit
ist nicht lange her, da litten Menschen, die unter bescheidenen, selbst bürgerlichen Verhältnissen lebten, unter der
zu großen Bestimmtheit ihres Daseins. Schon in jungen Jahren stand ihnen ihr weiterer Lebensweg deutlich vor Augen, desgleichen
die Sanktionen, die sie zu gewärtigen hatten, wenn sie davon abwichen. Ein starrer Verhaltenskodex, aus dem soziale Not ebensogut
als Arroganz sprechen konnte, zirkelte das Streben und Begehren ein, so daß sich vielfach das Gefühl einstellte, im eigenen
Körper eingesperrt zu sein. Literatur und Dramatik der bürgerlichen Epoche experimentierten reichlich mit der tragischen Metapher
des
Homo clausus
, des in sich selbst gefangenen Menschen. Betonte der Naturalismus die Ausweglosigkeit dieser sozialen Gefangenschaft vor
allem in den unteren Bezirken des Gesellschaftsbaus, verlegte sich der Expressionismus auf bürgerliche Ausbruchsversuche aus
diesem stahlharten Gehäuse; Verzweiflungstaten, Tragödien schilderten sie beide. Noch die Protestbewegung der 1960er Jahre
rieb sich sichtlich am kulturellen Determinismus, so geschwächt er zu dieser Zeit schon war. Die Filme aus der kurzen Ära
von
New Hollywood
, die
Nouvelle Vague
, ein Werk wie das von Rainer Werner Fassbinder bilden zusammengehörige Episoden eines einzigen großen Sprengversuchs von
lastender Tradition und verlogener Idylle. Im Osten und in der Mitte Europas währte die Revolte gegen das bevormundete Leben
bis zur |245| Auflösung des staatssozialistischen Gesellschaftssystems im Übergang von den 1980er zu den 1990er Jahren.
Von einem Übermaß an ›fürsorglicher‹ Einflußnahme redet heute niemand mehr. Die vorherrschende Empfindung ist die einer besorgniserregenden
Unterversorgung mit Verläßlichkeiten aller Art, beruflich-kollegialen, mitmenschlichen, familiären, partnerschaftlichen. Anders
als seine Vorläufer opfert uns das zeitgenössische Theater mit Vorliebe Eltern und Ältere, die noch den gröbsten Unfug der
Jüngeren geduldig ertragen, jede Reaktion, jeden Widerstand vermissen lassen; Liberale aus Papier, nicht zum Gebrauch geeignet.
Die Angst vor dem Eingesperrtsein ist der Angst vor dem Verlust jeglicher sozialer Einfassung gewichen. Der eigene Körper
als lebendiger Sarkophag der Wünsche hat als Metapher ausgedient; an seine Stelle ist die »Drift« getreten. 269 Das Bild von Menschen, die auf lauter kleinen Schollen dahintreiben, mal von der Strömung mitgerissen, dann wieder um die
eigene Achse kreisend, mit der Kollision als einzig möglicher Begegnung, übertrifft den
Homo clausus
an Dynamik und gleicht ihm in seiner Trostlosigkeit – schwarze Metaphern.
8. Die notorische Staatshetze, die von ihr inspirierte Politik der sich selbst entstaatlichenden Staatlichkeit verstärken
die Drift, erhöhen die Wahrscheinlichkeit von »Schiffbruch« und Zusammenstoß. Sie verweisen die Menschen an nur noch eine
Instanz, an den Markt, und damit letztlich an globale Tiefenströmungen, über die sie nicht die geringste Kontrolle besitzen.
Glück und Unglück stoßen den Menschen zu wie Naturereignisse, reißen sie jäh aus einem Zustand in den anderen. Das Leben wird
im präzisen Sinn des Genres zum MELODRAM, zur Achterbahn der Stimmungen und Gefühle. 270 Der stabile Rahmen aus Rechten und Garantien, in dem das individuelle Dasein soziale Verbindlichkeit gewann, wird brüchig,
erträglich für jene, die über Ressourcen verfügen, die davon unabhängig sind. Wer ohne solche Reserven lebt, erfährt die Auflösung
der Lebensrahmung wie ein letztinstanzliches Gerichtsurteil: lebenslänglich Freiheit ohne |246| Sicherheit. Besonders empfindlich trifft es jene, die den staatlichen Rahmen unter konkreten Umständen ausgestalteten, die
Sozial- und Kultur«arbeiter«; sie verlieren zu Tausenden ihre Rückendeckung, ihren Auftrag, ihre Stelle. Sie sollen eine Rolle
spielen, deren Text in ihren Ohren klingelt, die des staatlichen Lückenbüßers, Ersatzspielers.
Der öffentlichen Bibliothek, in der du gearbeitet hast, werden die Mittel entzogen, das Projekt in der Kinder- und Jugendarbeit,
das du seit Jahren betreust, wird gestrichen – führe nun ehrenamtlich weiter, was einmal deine Stelle war, eine für notwendig
erachtete Funktion! Zeige, beweise, wie ernst es dir mit deinem sozialen Engagement ist, gerade jetzt, wo es allein auf dich
ankommt! Begreife die fiskalische Not der öffentlichen Hände als eine Tugendprüfung, und entdecke, was
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