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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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keine fortgeschrittene Sozialstruktur und Wirtschaftsweise. Konkurrent
     unter Konkurrenten, die ihre Hausaufgaben mehrheitlich besser erledigt hatten, zerplatzte der preußische Traum von einer größeren
     Rolle im europäischen Konzert, von hegemonialer Bedeutung, an der fortbestehenden sozialökonomischen und politischen Verspätung
     dieser Kryptonation.
    Aus dieser verzweifelten Lage, die ein weiteres Zurückfallen nicht duldete, eine Modernisierung der Gesellschaft auf dem Hauptpfad
     der Epoche (freie Marktwirtschaft und Demokratie) nicht erlaubte, konnte nach schon bewährter Art nur eine Hybridbildung den
     Ausweg weisen: eine zweite »konservative Revolution«. Sie folgte in noch höherem Grade als die ihr vorhergehende der Devise:
     »Überholen ohne einzuholen!«, und sie fiel in eine Ära, die das kühne Unterfangen unterstützte. »Am Anfang war Bismarck« 243 ; die zeitgleich zutage tretende Krise des Manchesterkapitalismus (§ 21) förderte seine Pläne ganz erheblich.
    2. Hatten die Reformen von Stein und Hardenberg die Weichen für den Übergang Preußens zur ersten industriellen Revolution
     gestellt, schufen die Bismarckschen Reformen die Voraussetzungen für die erfolgreiche Bewältigung der zweiten industriellen
     Revolution. Der deutsche Konservatismus wurde aufs neue, was er schon einmal war: systematisch, grundsätzlich, fortschrittsgläubig
     und überdies staatstragend bis zur Staatsversessenheit.
    Es ist nicht ohne Ironie, wie die politisch und mental zutiefst konservativ gesonnenen Eliten, wie Grundbesitzer, Großindustrielle,
     hoher Staatsadel von nun an und bis ins späte Kaiserreich direkt sozialistische Vorhaben unerschrocken in Angriff nahmen,
     um Deutschlands europäischen Machtanspruch trotz aller historischen Verzögerung fundieren zu können. Kommunikative Infrastrukturen,
     Verkehrs- und Versorgungssysteme wurden als staatliche oder städtische Projekts geplant und mit hohem Tempo realisiert; das |234| schon weit gespannte Netz von Schulen, Hochschulen, Universitäten dehnte sich noch einmal beträchtlich aus; Fach- und Fachhochschulen,
     der angewandten Wissenschaft verpflichtet, verkoppelten Forschung und wirtschaftliche Praxis; der überkommene Bestand an Museen,
     Theatern, Bibliotheken wurde aus öffentlichen Mitteln gepflegt und weiter ausgebaut; ein modernes staatliches Gesundheitswesen
     entstand; Staat und Städte bauten Markthallen, Straßen, Wohnungen und ganze Wohnviertel, gründeten Sparkassen, Messen, schufen
     öffentliche Parkanlagen und Spielplätze, organisierten Müllabfuhr, Lebensmittelkontrolle und Armenunterstützung.
    Dieser »Staats- und Munizipalsozialismus«, letzterer unter höchst aktiver Mitwirkung des städtischen Bürgertums und seiner
     (Selbst-)Verwaltungsorgane 244 , bedeutete gewiß das Glanzstück der zweiten konservativen Revolution, ihr wichtigstes Vermächtnis. Daß dieses große Erbe
     heute ausgeschlagen wird, quer durch sämtliche Regierungsparteien, ist schlechtweg bestürzend. Schließlich war es Bismarcks
     konservative Reformbürokratie, die das Deutsche Reich in eine Versicherungsgesellschaft verwandelte, Wohltätigkeit durch Rechtsansprüche
     ersetzte, private Hilfe durch staatlich garantierte Vorsorge für Krankheit, Unfall, Alter. 245 Der politischen Gründung der Nation folgte die soziale, mochten deren maßgebliche Motive auch noch so unedel sein. 246 »Politik ohne Staat«, das gehörte unwiderruflich der Vergangenheit an – so schien es, bis zum jüngsten Widerruf.
    3. Der preußisch-deutsche Konservatismus in Bismarcks Version kennt keine Berührungsängste vor ganzheitlicher Politik, vor
     dem Verschmelzen mit Staat und Bürokratie; von »Zuversicht« durchdrungen, pflegt er eine revolutionäre Attitüde, einen eingreifenden
     Regierungsstil. Der bescheidene, defensive Konservatismus anderer Völker ist im Deutschland dieser Jahrzehnte nur mehr als
     schmales Rinnsal vorhanden. Die scharfe Polemik der »wahren«, »organischen« Konservativen gegen ihre rationalistischen und |235| etatistischen Brüder, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts so vernehmlich, ist weitgehend verebbt.
    So wie der Traditionalismus einst zur politischen Folklore herabsank, wurde der »Konservatismus von unten«, samt seines Appells
     an die praktisch-moralische Urteilskraft, an freiwilligen Respekt und seines Aufrufs zu Vermittlung und Versöhnung sozialer
     Dissonanzen auf ein bloßes Beiwerk zurechtgestutzt. Weil der deutsche

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