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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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Konservatismus die kapitalistische Eigentümergesellschaft
     nicht fertig vorfand, sondern mit entbinden half und großzog, war es nur natürlich, daß er sich mit seiner eigenen Schöpfung
     identifizierte, und, als großer Demiurg, auf die Idee der allgemeinen Machbarkeit verfiel.
    § 30 Rückwertung der Werte
    Mit der Reform verhält es sich wie mit der Arbeit; ihr An-sich-Sein, ihr Wesen in Absehung vom geschichtlichen Wandel zu fixieren,
     ist ein müßiges Geschäft. Reformen »sind«, was veränderliche Konstellationen, Kräfteverhältnisse, Interessengruppierungen
     aus ihnen machen: mal behutsam, mal kühn, mal Traditionen bewahrend, mal sie zerstörend, mal »skeptisch«, mal »zuversichtlich«.
     Unter allen historisch bereits in Erscheinung getretenen Varianten und Kombinationen erwiesen sich zwei als besonders stabil
     und folgenreich, bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein: die Verknüpfung des Reformbegriffs mit der »Revolution« und mit
     dem »Fortschritt«.
    Das erste Gespann löste sich nach dem Zweiten Weltkrieg, das zweite unmittelbar vor unseren Augen auf. Im realistisch anmutenden
     Glauben an eine Epoche »immerwährender Prosperität« verloren sich in den entwickelten westlichen Industriegesellschaften die
     Hoffnung auf sowie die Furcht vor der sozialen Revolution. Alles sprach für die Möglichkeit, Reformen erstmals in der neueren
     Geschichte |236| aus sich heraus zu motivieren, positiv, durch den Grundsatz demokratischer Teilhabe aller am wachsenden Wohlstand, an gerechteren
     Entfaltungschancen.
    Je mehr die Revolutionsfurcht verblaßte, desto inniger gestaltete sich das Bündnis von Reform und Fortschritt. Reformen waren
     per se »progressiv«, wobei der emanzipatorische Aspekt gegenüber technisch-organisatorischen wie ökonomischen Effizienzgesichtspunkten
     mehr und mehr die Oberhand gewann. Nach vollzogener Befriedung und Integration der Protestbewegungen der 1960er Jahre war
     ein Zustand absehbar, in dem jedes berechtigte Interesse, jede halbwegs relevante Forderung nach gesellschaftlicher Mitsprache
     und Mitwirkung angemessene Berücksichtigung erfuhr. Das unterirdische Grollen einer heraufziehenden Krise der Erwerbsgesellschaft
     trübte den allgemeinen Optimismus erst peripher. Ein Jahrzehnt darauf war die Erosion der Fundamente des sozialen Ausgleichs
     in aller Munde, breitete sich ökonomisch-ökologische Krisenstimmung aus. Und nachdem eine weitere Dekade vergangen, mit den
     Umbrüchen in Ost-Mitteleuropa heroisch verabschiedet worden war, erlebte der soziale Reformismus seinen politischen Aschermittwoch,
     auch in Deutschland. Was seither geschah, war eine Um- oder besser eine Rückwertung der Werte. Sie entkoppelte die Reform
     vom »Fortschritt« in seiner eingebürgerten Bedeutung, vom Glücksanspruch der Mehrheit, von der Förderung der Schwachen, und
     schuf neue Selbstverständlichkeiten. »Richtige« Reformen sind nunmehr schmerzhaft, tun weh, sie gehorchen dem Zwang zum Weniger,
     nicht den Verlockungen des Mehr und Immermehr, sie bringen Einschränkungen mit sich, Belastungen, Enttäuschungen.
    Formell galt das auch für den Reformismus früherer Zeiten. Nur waren es seinerzeit die Privilegierten, Adelige, wohlhabende
     Bürger, denen fiskalische Lasten oder rechtliche Verbindlichkeiten auferlegt wurden. Diesmal trifft es die soziale Pyramide
     im Abschnitt ihrer größten Ausdehnung, |237| ihr unteres Drittel, ihren Fuß. »Richtige« Reformen stehen nicht länger in Bezug zu höherer Chancengleichheit, zu erweiterter
     Partizipation, zum gesicherten Leben; als sozial neutralisierte Prozesse korrespondieren sie nur mehr dem Handeln in der Not.
     Statt den individuellen Alternativspielraum auf gesichertem Grund auszuweiten, empfehlen sie sich gerade durch ihre Optionslosigkeit:
there is no alternative.
Sie begründen keine Ansprüche, sondern ziehen sie, das »Anspruchsdenken« insgesamt, in Zweifel. Sie offerieren keine Wohltaten,
     sondern »Grausamkeiten«, die zu begehen sie sich rühmen. Vom Gedanken an einem möglichen Aufstand von unten nicht länger aufgeschreckt,
     exekutieren sie dessen glattes Gegenteil: den Aufstand von oben, die Revolte der Etablierten gegen die »Konsensgesellschaft«,
     gegen Ausgleich und Gleichmacherei.
    Der politische Konservatismus steht an der Spitze dieser Rückwertung des Reformbegriffs, die in der Praxis auf eine kräftige
     Beschneidung sozialer Garantien hinausläuft. Von seiner langen und wechselvollen

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