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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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es über alle Voraussetzungen, um die zweite technologische Revolution, die zur Massenfertigung hochwertiger Industrie- |253| und Konsumgüter überleitete, erfolgreich zu absolvieren: theoretische und praktische Bildung, Kopplung von Wissenschaft und
     Produktion, entwickelte Infrastrukturen, sozialstaatliche Daseinsvorsorge und Konfliktregulierung. Bei der nächsten Passage,
     ausgelöst von der dritten technologischen Revolution zu Beginn der 1970er Jahre, büßte die (west-)deutsche Gesellschaft ihren
     Vorsprung ein. Anfänglich zehrte sie noch vom Polster einer gut ausgebildeten Arbeiterschaft, findiger Ingenieure, von der
     Tradition sozialer Kompromisse, was ein Gefühl der Bestätigung hervorrief, den Eindruck, mit dem alten Erfolgsmodell noch
     immer auf dem rechten Weg zu sein.
    Der politische Umbruch in Ostdeutschland befestigte diese Selbsttäuschung in doppelter Hinsicht. Er verdeckte die schleichende
     Krise des »Rheinischen Kapitalismus«, immunisierte ihn gleichsam gegen Kritik von innen, und er verschaffte ihm, wenngleich
     nur kurzfristig, den sehnlichst erwarteten Wachstumsschub. Nachdem sich beide Wogen geglättet hatten, sprachen alle Indikatoren
     gegen die Politik des Weitermachens. Die Arbeitslosigkeit stieg stärker als in vergleichbar entwickelten Nationen, Bruttoinlandsprodukt
     und Wertschöpfung je Beschäftigtem verzeichneten geringe Wachstumsraten, scheinbar gesicherte Bildungsstandards gerieten jäh
     ins Wanken, das Gespenst der sozialen Vererbung ging für alle sichtbar um. Großbritannien, der große Leidtragende der zweiten
     Passage, schloß wieder zu Deutschland auf und zog auf manchen Gebieten sogar vorbei, ebenso andere, Frankreich, Österreich,
     Irland, die Niederlande. Die Niedergangskataloge der professionellen Schwarzseher und Schwarzredner können Fakten für sich
     sprechen lassen. 277
    2. Die ganze Art der Wiedervereinigung sowie deren Folgen verdeutlichten schon länger virulente, gravierende Probleme in Staat,
     Wirtschaft und Gesellschaft. Als zunehmend fragwürdig erwies sich das Festhalten am Sozialstaat Bismarckscher Prägung, und
     dies, obwohl andere Länder seit |254| Jahren alternative Modelle praktizierten, steuerfinanzierte, die Innovation, Beschäftigung und existentielle Sicherheit weit
     effektiver miteinander kombinierten. Nicht günstiger stand es mit einem staatlichen Bildungssystem, das sich den Erfordernissen
     der Zeit geradezu systematisch verschloß, Leistung zur Sekundärtugend herabsetzte, natur-, technik- und ingenieurwissenschaftliche
     Berufe in Mißkredit brachte, neue Berufsbilder und -felder weder ausreichend propagierte noch förderte. 278
    Regelungsdichte, Regelungsversessenheit, auch das gehört zur Mängelliste, Gesetze und Verordnungen gewordene kollektive Traumata,
     papierene Folgen der selbst heraufbeschworenen Schicksalsschläge des zwanzigsten Jahrhunderts, einer kollektiven Versicherungsmentalität,
     die sich am liebsten noch gegen jenes Risiko versichern möchte, das der eigenen Courage entspringt.
    Die Reformen, deren Deutschland heute bedarf, sind im Ausmaß und in den Konsequenzen jenen gleichzusetzen, denen es sich in
     seiner Vorgeschichte gewachsen zeigte. Es muß, im großen wie im kleinen, wieder Leben ins Leben kommen, das spürt jeder; umkämpft,
     umstritten sind die Ziele und Methoden der Neubelebung. Der allgemeinen Regsamkeit ist äußerlich nicht abzulesen, ob sie die
     Hoffnung vor Augen oder die Angst im Nacken haben. Erst eingehende Prüfung vermag herauszufinden, was primär den Ausschlag
     gibt: Getriebensein oder Handeln aus eigener Einsicht, mit »Zuversicht«. Unseren »Reformern« gebührt das Verdienst, beide
     Antriebsquellen in einem Kurzschluß zu vereinigen. Sie setzen ihre Hoffnung auf die Angst der Menschen, sozial wieder scheitern
     zu können, und zwar gänzlich. Das kalkulierte Spiel mit Angst und Verzagtheit kennzeichnet diese »Reformen« im Grundsatz als
     Beute geistigen Diebstahls, als Vehikel der Rücknahme aller bereits gegebenen und eingelösten Reformversprechen, als MASKEN
     DER GEGENREFORM. Erst stiehlt man die Reform, dann zwingt man sie zum Meineid.
    |255| 3. So wie sich sinnvoll, rationell eingerichtete Räume noch in der schlecht gezimmerten Hütte finden, birgt auch die verkehrte
     »Reform« der Reaktionäre einen rationellen Kern in sich. Die Unterscheidung zwischen Ausgaben- und Einnahmenökonomie erlaubt
     es, ihn zu bergen. Sie schließt unmittelbar an die frühere

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