Buerger, ohne Arbeit
wirkliches Interesse
war und was nur Schielen aufs Entgelt! »Zivilgesellschaft« als zynisches Projekt kurzsichtiger Rechenkunst: Der Staat geht,
und ihr müßt ihn ersetzen. – Ersetzt ihn nicht! Kaschiert die Lücken und die Leere nicht! Zeigt der Staat sich nackt, dann
redet nicht von Kleidern und hängt ihm keine um! Rettet euch, so gut es geht; verwischt die Spuren! Und wenn eure Rettung
darin besteht, aus eigenem Auftrag fortzuführen, was noch kürzlich eine anerkannte Arbeit war, dann tut es! Aber laßt euch
die Lust nicht zur Pflicht vergällen! Und schöpft aus der Unlust kein schlechtes Gewissen! Bewahrt eure Fähigkeiten, knüpft
soziale Netze, aber fühlt euch zu nichts gezwungen! Erwartet gelassen den Lehrmeister der neuen Tugend – den großen Krach!
Wenn die nunmehr sich selbst überlassenen Sorgenkinder mit Fleischermessern durch die Schlafzimmer der Zyniker gehen, werden
sie die Wahrheit wissen! Labt euch schon jetzt an ihrem Jammer! Hofft alles von der konservativ-liberalen »Reform«offensive!
Sie ist der schnellste Weg zu eurer sozialen Wiedergeburt!
9. Hoffnung auf den Zusammenbruch? Pseudorevolutionärer Zynismus als Antwort auf den Zynismus von oben? Verweigerung oder
Reparatur, Revolte oder Mitgefühl, das ist |247| ein altes Thema. Brecht, zur Zeit seiner »Lehrstücke«, behandelte es mit großer Meisterschaft. Allerdings auch mit kalter
Konsequenz. Wer dem Nächsten und Bedürftigen hilft, mit einem Stück Brot und guten Worten, bestätigt ihn in seinem Elend,
seinem Geworfensein, bringt ihn ab von der Erkenntnis, daß sein Hunger nach der Gesamtveränderung der Welt verlangt. Um seine
langfristigen Ziele zu erreichen, muß sich der Weltveränderer in der Gegenwart mit Härte wappnen, dem einzelmenschlichen Leid
verschließen, Humanität und Freundlichkeit vertagen. Nur, wenn der mitmenschlich-soziale Sinn planvoll erfriert, abstirbt,
wo bleiben dann im kritischen Moment die Menschen, die noch Mut und Kraft zum Aufbegehren finden? Ken Loach, ein kluger Schüler
Brechts, weiß in seinen Filmen eine Lösung: die kleine Solidarität als Statthalter der großen. Einen muß es geben, der mich
in meiner Verzweiflung ermutigt, mir hilft, den Kopf noch eben über die moralische Schwelle zu erheben; einen, der mir Brot
und gute Worte gibt – und Rosen am Horizont befestigt. 271
§ 32 Patriotismus der Anpassung
1. Das spartanische Sozialmodell der heutigen Konservativen und Liberalen verkennt die durch den Wohlfahrtsstaat ausgelösten
Veränderungen im kulturellen Haushalt der Gesellschaft. Die Verrechtlichung und Institutionalisierung sozialer Risiken erwies
sich als eines der mächtigsten Werkzeuge der Individualisierung; sie legte die Quellen freiwillig-verpflichtender Daseinsfürsorge
bis in die Zellen und Kapillaren der Gesellschaft trocken. Eine Rückkehr zur alten Politik ohne Staat, zum sozialen Honoratiorenwesen,
zur Familialisierung der Hilfe ist ausgeschlossen oder doch nur um den Preis einer erneuten Fesselung des marktgängigen Individuums
durchzusetzen; ein flagranter Widerspruch. Dessen ungeachtet geht es weiter auf dem Weg der sich entstaatlichenden Staatlichkeit,
heißt es weniger Einbettung, weniger Teilhabe, |248| weniger Entwicklungschancen, sozialer Abschwung für den wirtschaftlichen Aufschwung.
Was im Inneren der Nationen gilt, gilt auch für ihren äußeren Verkehr: Es wird Gewinner und Verlierer geben; wer einmal zu
den Siegern der Geschichte zählen will, darf um Verluste in den eigenen Reihen nicht verlegen sein. Verloren ist, wer im eigenen
Land soziale Grausamkeiten scheut, die andere längst begangen haben. Wer sich den Zwängen nicht bequemt, wer sich nicht anpaßt,
wird ohne Gnade aussortiert. Daß der Wettlauf am Ende gar keine Sieger küren, daß alle verlieren könnten, ist das kollektive
Ungedachte dieses feigen Souveränitätsverzichts. Der neue Patriot der Anpassung stärkt sein Vaterland gerade dank seiner Bereitschaft,
ihm soziale Wunden zuzufügen, mit harten Schnitten und möglichst noch rechtzeitig, bevor die Nation im ganzen ausblutet. »Deutschland
kann es besser!«, und darum muß es schlechter werden, erst einmal, für einige, vielleicht für viele; »Hurra!«
Daß die Logik bei diesem Hurrapatriotismus mit zusammengebissenen Zähnen auf der Stelle tritt, verwundert ebenso wenig wie
der völlige Mangel an Begeisterung und Begeisterungsfähigkeit. Der politische Konservatismus in
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