Buerger, ohne Arbeit
selbst das schlechte Neue mehr Zukunft auf als das gute Alte.
Aber ganz so einfach verhält es sich nicht. Die Sozialdemokratie rang durchaus um ein zeitgemäßes Zeitverständnis, in Deutschland
wie in anderen europäischen Ländern. Dabei wurde das Erbe jedoch weniger aktualisiert und weiterentwickelt, als vielmehr verleugnet,
spätestens seit der Mitte der 1970er Jahre. 273 Die Programmatik zog ihren Zukunftsschatten ein, verbiß sich in die Gegenwart, ins »Machbare«, und formulierte den zerbröckelnden
Status quo als Utopie: Wohlfahrt für alle durch Wachstum und |251| Vollbeschäftigung, gegebenenfalls durch staatliche Investitions- und Beschäftigungsprogramme. Soweit sie an Keynes festhielt,
klammerte sie sich an dessen Einmaleins der antizyklischen Regulierung und schreckte ängstlich vor dessen weitergespannten
Überlegungen zurück (§ 41.5; § 43.2,6). Was die europäische Sozialdemokratie letztlich in die Defensive, ans Gängelband ihrer
politischen Gegner zwang, war ihre Furcht vor radikalen Veränderungen, vor dem wirklich Neuen, Unerprobten, kaum Gewagten,
vor der Freiheit als Alternative zur (unmöglichen) Vollbeschäftigung.
4. Statt dessen: schale Marktweisheiten. Soziale Ungleichheit – kein Grund zur Freude, kein Grund zur Sorge, solange sie nicht
überhand nimmt; Gleichheit ist schließlich auch kein Wert an sich. Der Kapitalismus als Hauptverursacher der Probleme moderner
Gesellschaften – eine »archaische« Vorstellung. Reformen, die die Geduld der Unternehmer strapazieren – das war einmal; die
»moderne« Reform weiß um die Zerbrechlichkeit guten Geschirrs. »Unter ›Modernisierung‹ ist eine Reform zu verstehen, die die
sozialen Institutionen – und keineswegs allein die wirtschaftlichen – den Erfordernissen einer globalen Informationsgesellschaft
anpaßt
.« 274
Captatio benevolentiae!
Anpassung der (nationalen) Gesellschaften an die (weltweit vergesellschaftete) Wirtschaft, auf diese phantasielose Konzeption
läuft sie hinaus, die politische Philosophie der »neuen« Sozialdemokratie.
Tatsächlich gefragt, gefordert sind Modelle zur Anpassung der Wirtschaft an die Überlebensbedürfnisse der Menschheit wie jedes
einzelnen, Fortschritte auf dem Weg zu einer postnationalen Staatlichkeit, die den Primat des Sozialen hochhält (§ 23.6).
Davon kein Wort. Viele Worte vom Unternehmergeist und von der Eigenverantwortung, von der Flexibilität des Individuums, von
hemdsärmeliger Aufbruchsstimmung, vom »einwandfreien Spiel der Marktkräfte« (einwand-frei, man lese und staune!), von erfolgreichen
Investoren, aus eigener Kraft reich Gewordenen, die |252| hinfort wie Künstler geschätzt werden sollen, vom gesellschaftlichen Nutzen kapitalistischer Plusmacherei. 275
Das kennen wir schon, das hatten wir schon: Die flügellahm gewordene Utopie umgarnt den Status quo; der nimmt die Werbung
an und gähnt zurück. Man muß in der neueren Geschichte schon weit zurückgehen, um auf eine politische Bewegung zu stoßen,
die sich mit vergleichbarer Energie dem Nachweis ihrer Überflüssigkeit gewidmet hat; selbst der deutsche Liberalismus unter
Bismarck bewies mehr Statur, mehr Eigensinn, ausgeprägteren Selbstbehauptungswillen.
§ 33 Von der Ausgabenökonomie zur Einnahmenökonomie
1. Vom Reformbedarf der deutschen Gegenwartsgesellschaft zu schweigen wäre albern. Die Gefahr, das Schicksal anderer Nationen
zu wiederholen, die es auf dem Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen und politischen Machtentfaltung versäumten, Vorsorge für die
Zukunft zu treffen, ist gegeben. 276 Die großen Nationen des merkantilen Zeitalters, Spanien, Portugal, die Niederlande, stagnierten und fielen zurück, weil sie
sich auf eine Art der Akkumulation versteiften, die seit dem Beginn der Manufakturperiode unwiderruflich überholt war. Stolz
auf ihre Rolle als Zahl- bzw. Fuhrmeister der Welt, maßen sie den wahren Reichtum unbeirrt in Handelsüberschüssen, in Gold
und Silber, statt in der Menge arbeitsfähiger Armer, die ihm dauerhafte Form verliehen. England bewältigte den Übergang vom
Handels- zum Industriekapitalismus am schnellsten, überholte seine alten Konkurrenten und avancierte zum ersten Werkmeister
der Welt. Ausgangs des neunzehnten Jahrhunderts verlor es diese Position. Mit einem großen Sprung setzte sich Deutschland
an die Spitze des industriellen Fortschritts, zusammen mit den Vereinigten Staaten. Dank der früheren Reformprozesse verfügte
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