Buerger, ohne Arbeit
Deutschland kehrt durch und
durch verzagt zum Markt zurück. Er findet aus den Verstrickungen der Gegenwart einfach keinen anderen Ausweg, als Edmund Burke,
seinem europäischen Stammvater, endlich Genüge zu tun und die Regierung in die alleinigen Hände der Eigentümer zurückzulegen.
Die politische Bühne als Ort eines gigantischen
hostile-take-over
, einer feindlichen Übernahme; das weckt keine erhabenen Gefühle. Nicht einmal oppositionelle, denn auf den Regierungsbänken
spielt genau dasselbe Stück.
2. Ist der Neokonservatismus hierzulande tatsächlich nur nationalpatriotisch? Verfügt er nicht über eine einflußreiche europäische
Strömung, die sich seit längerem und mit guten Gründen zum nationalen Souveränitätsverzicht bekennt? Es gibt sie, noch immer,
und in machtpolitischer Hinsicht geht ihr Programm einer postnationalen Souveränität auch auf. |249| Nur ein nach innen geeintes und befriedetes Europa wird seine geopolitische Position, seine wirtschaftliche Macht behaupten
können. Die Vorstellung einer sozialen, sozialstaatlichen Integration des Kontinents geht damit nicht einher. In sozialer
Perspektive bedient die postnationale Staatlichkeit der neuen Konservativen dieselbe Anpassungslogik wie ihre Innenpolitik.
Die politische Einigung Europas mit der Proklamation existenzsichernder sozialer Standards und Garantien zu verbinden hieße
die nationalen »Auswüchse und Übertreibungen« des Sozialstaats zu verallgemeinern, die Chance zu verspielen, dem Gewerbefleiß
die Zügel endlich freizugeben. Europas politischer Aufbau und seine gleichzeitige soziale Abrüstung bilden in diesem Konzept
keinen Widerspruch. Sie formulieren eine Hoffnung: »Europa kann es besser als der Rest der Welt!«, sofern der Verzicht auf
nationale Hoheitsrechte Hand in Hand mit dem Verzicht auf staatliche Regulierung des größeren Ganzen geht.
Die kontinental ausgeweitete Politik der staatlichen Entstaatlichung paßt funktionsgenau zur globalen, ökonomisch, aber nicht
sozial vereinheitlichten Welt. Sie bildet diese Welt der zwei Geschwindigkeiten ab, weist ihr aber keine andere Zukunft als
wiederum nur die von Siegern und Geschlagenen. Ihr kruder Realismus ist ihre Schwäche, aber auch ihre Stärke. Sie konfrontiert
das Publikum mit einer schroffen Wahl: triumphieren oder untergehen, assoziiert Staat und Bürokratie mit der sicheren Niederlage,
Unternehmergeist mit vorderen Rängen und plaziert die »schmerzlichen Reformen« mitten in diesem Entweder-Oder. Mangels überzeugender
Gegenentwürfe verfängt die Strategie, erschüttert sie den sozialstaatlichen Konsens auch von unten her. »Die Unternehmerseite
hat den Begriff der Reformfähigkeit erobert … Jetzt verkörpert der Staat die Unbeweglichkeit und die Bürger, die Gesellschaft
…, das Nichtstaatliche jedenfalls, stehen für Modernität und Bewegung.« 272
3. Diese Feststellung verweist unmittelbar auf das Versagen der anderen großen Reformpartei, der (deutschen) |250| Sozialdemokratie. Warum vertrat sie der konservativ-liberalen »Reform«offensive nicht den Weg? Warum lehnte sie sich gegen
die grassierende Staatshetze, gegen Anpassungs- und Entstaatlichungsrhetorik, nicht kampfeslustig auf? Warum durchtrennte
sie die Fäden, die sie mit einer glorreichen Vergangenheit verbanden? Die politischen Strömungen und Organisationen, die den
modernen Begriff der Reform maßgeblich prägten, sozialistische bzw. sozialdemokratische Parteien sowie die großen Gewerkschaften,
wurden im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert vom liberal-konservativen Lager ausmanövriert – wenn es »gut« ging. Kam es arg,
dann legten sie sich selber lahm.
Wie konnte das geschehen? Die simpelste Antwort rechnet mit Ermüdung. Eine politische Reformbewegung mag die Impulse aufbrauchen,
die sie einmal begeisterten, die Initiative an andere Gruppierungen und Koalitionen verlieren. Das sozialdemokratische Reformkonzept
könnte insofern historisch ausgereizt gewesen sein, so daß es eines neuen Rahmens, eines neuen Reformparadigmas bedurfte,
um die Gesellschaft politisch zu orientieren, voranzubringen. Soziale Neuerer sind nicht davor gefeit, Bestandskonservative
abzugeben, die frühere Errungenschaften engstirnig und eifersüchtig, so als wären sie ihr alleiniger Besitz, gegen ungewohnte
Herausforderungen verteidigen. Genau das will die Rede von den »Traditionalisten« und »Reformern« sagen; in einer Zeit des
Umbruchs ruft
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