Buerger, ohne Arbeit
Gleichheit am Start, verhindert, daß keiner zu früh aus den Startblöcken
aufschießt? – Was hieße, früher als die anderen loszulaufen? Doch wohl, daß einige sich wißbegieriger zeigen, selbständiger
als andere. Soll man sie an den Start zurückbeordern, ihre Lernbegierde zähmen? Das wäre eine einfältige Pädagogik. »Frühstart
für alle!« lautet die einzig sinnvolle Devise. Sie bestätigt jene, die schon unterwegs sind und spornt die noch Zögerlichen
geduldig an. Die Langsameren verdienen besondere Sorge, Förderung und Aufmerksamkeit über die Norm hinaus. – Das ist doch
ungerecht! Was ihnen zuteil wird, entbehren die anderen. 286 – Es ist ungerecht, aber die Ungerechtigkeit kann gerechtfertigt werden. Es liegt im Interesse der Vorreiter, wenn die |269| Nachzügler größere Zuwendung erfahren. Sie schließen auf, entdecken ihre Neigungen und entwickeln sie, werden zu gleichwertigen,
anregenden Mitschülern. »Den Ungleichen Ungleiches«, noch vor dem ersten Schultag: das ist das Geheimnis der substantiellen
Gleichheit am Start! 287
Und die Gleichheit im Ziel, dies vorgebliche Hirngespinst der Gleichheitsfreunde? 288 Werden im Fortgang des Rennens nicht notwendigerweise einige auf der Strecke bleiben, aller Anfeuerungsrufe ungeachtet? Seht,
dort geht der Hauptschüler und dort der Gymnasiast. – Nur, wo liegt das überhaupt, das Ziel? Verfolgen alle ein und dasselbe?
Muß jeder dieselbe Linie überqueren, auch der mit wunden Füßen? Wäre DAS nicht rohe Gleichmacherei? Erreicht der Generaldirektor
tatsächlich früher das Ziel als der Schauspieler oder der Reparaturschlosser? Fragen aus dem Nähkästchen unserer heimlichen
Gleichmacher! Sie alle sind im Ziel, in ihrem Ziel, bei umsichtiger Förderung.
7. Das Ziel ist so wenig vorgegeben wie der Weg. Wenn jeder seinen Weg bestimmt und Ziele, die seinen Neigungen und Fähigkeiten
zumindest ähneln, und alles zur Entfaltung der je spezifischen Talente geschah, sind die Forderungen der Gerechtigkeit befriedigt.
– Aber sind Generaldirektor, Schauspieler, Schlosser nur deshalb keine modernen Gladiatoren, weil sie verschiedene Rennen
absolvieren? Treten sie nicht, Gruppe für Gruppe, gegeneinander an? – Doch wo versammeln sich die designierten Direktoren?
Wo kann man auf sie wetten? Das kann man nirgendwo. Sie treffen sich in Hinterzimmern und Salons und zeugen sich durch sozialen
Inzest fort. (§ 39.3) Die denken keinen Augenblick an Rennen. Für die ist Rennen: Volkssport. Und wenn das Volk nicht rennt,
dann ist es faul. Und wenn die Politik die Faulheit der Arena nicht bekämpft, dann ist sie ungerecht. Die auf den Rängen haben
Lust auf Wettbewerb mit Zähnen, auf Sieger und Verlierer.
Interesse, Neugier, Sich-beweisen-Wollen, Ehrgeiz: all das gehört dazu, verleiht dem Leben Reiz und Würze. Der |270| Rennläufer auf seiner eingefaßten Bahn, dem jeder Blick zur Seite Schaden einträgt, das eine Rennen mit dem nur einen Ziel
vor Augen, der einzelne allein mit allen, gegen alle, ist ein reales Zerrbild der Gerechtigkeit. Jedoch das Leben ist kein
Rennen, und wenn es sich allein im Rennen spürt, dann ist es früh vertan, verfehlt. Das Leben ist: Erkundung, Selbstentdeckung,
Pfade durch das Dickicht schlagen, Ziele suchen, verwerfen, überprüfen, nicht Hatz auf planer Bahn.
8. Gerechtigkeit zu formaler Fairneß zu verstümmeln ist der ideologische Auftrag der Sportmetapher. Alle versammeln sich freiwillig
am Start oder zum Spiel; alle akzeptieren dieselben Regeln; alle unterwerfen sich einer gemeinschaftlich eingesetzten Autorität,
die über deren Einhaltung wacht. Aus dem Wettkampf gehen Sieger, Plazierte und Verlierer hervor. Da nur die allseits respektierten
Regeln angewendet wurden, gibt es weder Anlaß noch Recht zur Klage. Beim nächsten Mal geht es von vorne los; der Bessere gewinnt
und revidiert die früher festgestellte Rangordnung zu seinen Gunsten – abstrakt gesehen, das heißt falsch.
In Wahrheit kumulieren sich Erfolge, Niederlagen. Der Sieger erntet Pokale, Preise, Anerkennung, Geld und guten Ruf. Die kann
er investieren in renommierte Trainer, gute Trainingspartner, teure Ausrüstung. GELDWÄSCHE DER GERECHTIGKEIT ist die soziale
Regel, die die formale Regelkunde unterhöhlt. Die Läufer treffen in desto geringerem Maße als Ebenbürtige aufeinander, je
mehr Rennen sie bereits im Rücken haben. Es handelt sich um Ausscheidungskämpfe, in den sportlichen Arenen so gut
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