Buerger, ohne Arbeit
und Kassensanierungen im Dienst
eines motivierenden kollektiven Projekts. Der Horizont der Arbeitsgesellschaft wäre hinausgeschoben, nicht durchbrochen; dazu
bedürfte es schon einer »Revolution im guten Sinn«.
Davon sind wir in Deutschland derzeit weiter denn je entfernt. Unsere »Reformer« messen mit stierem Blick auf die soziale
Hierarchie jedem das Seine zu: Lastenabschüttelung für die Reichen, Sparprogramme für den Rest. Dabei wissen sie nicht einmal
klug zu sparen. Das neue soziale Minimum, das »Arbeitslosengeld II«, bestraft Ehen und eheähnliche Partnerschaften, indem
es Einkommen des arbeitenden Teils auf die Bezüge des jeweils Empfangsberechtigten anrechnet. Wer mit einem auch nur durchschnittlich
verdienenden Partner zusammenlebt, hat »Pech«, geht leer aus, greift in seiner Not nach dessen Geld. Selbst die Sparguthaben
der Kinder geraten unter diese Knute. So beugt man Zuneigung und Liebe unter persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, kurzfristig.
Auf längere Frist entmutigt man den festen Bindungswunsch, fördert die Zunahme rechtlich unverbindlicher Allianzen. Verläßliche
familiäre Verhältnisse, Kinderwunsch und Kindersegen: Formeln für die Galerie, zum Fenster hinausgesprochen; die Familie der
Zukunft: eine Kalkulationsmaschine. 282 Verjage, Trygaios, das bigotte Personal aus seiner Festung!
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|267| Politische Chirurgie oder Gleichheit als Geschwür der Gerechtigkeit
§ 35 Chancen
1. »Die Lehre von der Gleichheit! … Aber es giebt gar kein giftigeres Gift: denn sie SCHEINT von der Gerechtigkeit selbst
gepredigt, während sie das ENDE der Gerechtigkeit ist
… ›Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches – DAS wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches
niemals gleich machen.‹« 283
2. Neokonservative, Neoliberale, Neosozialdemokraten verstehen sich als Operateure am sozialen Körper. Ihre gemeinsame Diagnose:
Wohlfahrtsstaat, ausgabenökonomisch entgleist; schweres Gerechtigkeitssyndrom. Behandlungsplan: Gerechtigkeit von den Wucherungen
der Gleichheit befreien; harte, schmerzhafte Schnitte. Einverständniserklärung des Patienten: überflüssig. Anästhetikum, schwach
wirkend: Chancen für morgen.
3. » Chance die; –, -n: 1. Günstige Gelegenheit, Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu erreichen. 2. Aussicht
auf Erfolg« 284 ;
» meist Plur.
: Aussichten auf Erfolg« 285 .
4. Der Verweis der deutschen Rechtschreibung auf den Plural ist wesentlich. »Er/sie hatte seine/ihre Chance« heißt: jede(r)
darf das Glück EIN MAL versuchen; Abtreibung des Lernens aus dem menschlichen Leben, Standpunkt der Inhumanität. Daher: Gebrauch
der Mehrzahl, »meist«, denn gänzlich ausgestorben sind die reinen Sozialdarwinisten nicht. »Er/sie verdient eine zweite Chance«
mischt in die Ermunterung unüberhörbar eine Drohung: »Es wird die letzte sein!«; Lernprozesse mit der Angst im Genick, Sozialdarwinismus
mit humaner Fratze, Jargon der Gangster.
5. In den handelsüblichen Begriff der Chance ist ein Zählwerk eingebaut. Es numeriert Gelegenheiten und ordnet |268| sie: erkannte, ergriffene, übersehene, verspielte; modale Freiheit, opportunes Leben:
2, 3, 50, 100 … Strikes, and you are out.
Wer von Chance, Chancen spricht, spricht vom sozialen Sportsgeist. Das gilt auch für die ChancenGLEICHHEIT, den Köder der
»schmerzhaften Reform«.
6. Einheitsdenken, Einheitshandeln im politischen Raum, im Raum aller realistisch denkbaren politischen Konstellationen und
Koalitionen auf gesamtstaatlicher Ebene, in Deutschland, fast überall in der Welt. Politische Chirurgen, allerorten; in der
gemeinsamen Absicht, den Patienten von der Notwendigkeit der Operation zu überzeugen, suchen sie Zuflucht bei der Propaganda.
Die hat seit je zwei Hauptregister, Vereinfachen und Wiederholen und einen Lieblingsmodus – Bilder. Das am häufigsten verwendete:
das Leben als Rennen, der Mensch als Läufer. Gesellschaftliche Ordnungen genügen der Gerechtigkeit, wenn sie die Gleichheit
aller am Start garantieren, und sie entarten, wenn sie Gleichheit fordern auch im Ziel.
Begeben wir uns also an den Start. – Wo aber geht das Rennen los und wann? Gleich mit der Geburt? Aber da stehen wir auf allzu
schwachen Beinen. Mit dem Eintritt in die Schule, in die Welt der persönlichen Bewährungen, der Tests, Prüfungen und Noten?
Nur so kann es gemeint sein. – Was aber sichert die
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