Buerger, ohne Arbeit
excellence, Qualifikation
im Modus der Empfängnis, empfängt es nur das ihm Gebührende.
Mit der höchsten Steigerung des Talents, mit der Naturgabe, verfährt die Logik des praktischen Sinns weniger ehrerbietig.
Paradoxerweise. Entscheidet die Mitgift doch hier so gut wie alles, die Ausbildung beinahe nichts. Gleichwohl erkühnen sich
ganz gewöhnliche Menschen des Vergleichs mit den Auserwählten, modellieren sie ihre Körper, ihr Äußeres, ihr Antlitz nach
den Abbildern der Unikate, verwandeln sie in eine oftmals harte Arbeit, in Tortur, was als Dasein ohne Grund und Auftrag jeder
Arbeit spottet. |295| Ihre verzweifelten Bemühungen enthüllen eine kulturelle Konstellation, die der Natur, die Mühe noch verlangt, gewogener ist
als der Natur, die feiert. Noch. – Noch? Ist nach dem Schönheitswahn der Talentewahn nicht bereits ausgebrochen? Kann derweil
nicht jeder schreiben, der den Griffel halbwegs halten kann? Und singen, was die Stimmbänder erlauben? Und schauspielen, daß
sich die berühmten Balken biegen? Dem HERRN ins Handwerk greifen, zwanghafte Kultivierung, Maskerade, Chirurgie mit oder ohne
Messer, die die Schöpfung mit verbissenen Lippen nachäfft, so geht die Melodie, nach der der Geist der Zeit sein Spottlied
auf die Zeit des Geistes trällert. Kulturgesellschaft? Du liebe Güte! – Verbeugung des Kulturpessimisten. Spärlicher Applaus.
Abgang.
7. Rückkehr des Analytikers. In der ebenso tatkräftigen wie überwiegend aussichtslosen Weigerung, naturgegebene Unterschiede
hinzunehmen, artikuliert sich ein Ungerechtigkeitsempfinden, für das es scheinbar keinen Adressaten gibt. Wo ist die juristische
oder öffentliche Instanz, die Klagen gegen das Unrecht der Natur auch nur zur Kenntnis nähme? Kein Tatbestand, ergo auch kein
Verfahren, »Revision« der Güterverteilung auf eigenes Risiko und zum vorzüglichen Nutzen der Geschäftemacher dieser Branche.
Besitzen die Kläger nicht dennoch dasselbe Recht auf Anhörung wie Voltaire, der das Erdbeben von Lissabon als »skandalösen
Unfug der Natur« verurteilte? Größeres Recht vielleicht sogar als dieser? Ist es wirklich nur schicksalsblinde Fügung, die
die einen mit überragenden Begabungen, kräftiger Konstitution, gewinnendem Äußeren ausstattet, andere nur eben so bedenkt,
noch andere mit Handikaps versieht? Bilden diese Differenzen nicht das vorläufige, revidierbare Fazit einer weit in die Vergangenheit
blickenden Bildungsgeschichte menschlicher Sinne und Vermögen? Muß man in und hinter ihnen nicht das Wirken sozialer und kultureller
Mächte aufspüren, die die Individuen auf Kasten, Schichten, Stände und Klassen verteilten, in begüterte oder notleidende |296| Familien hineinversetzten, in kulturell reiche oder karge Milieus? Ist, was wir allzu eilig und oberflächlich als Urteil der
Natur bezeichnen, nicht in Wahrheit das Produkt der sozialen Vererbung, gespeichertes Unrecht, weit kritikwürdiger als das
Lissabonner Beben?
Die »natürlichen« Unterschiede sowie die aus ihnen erwachsenden Vor- und Nachteile sind ebenso willkürlich wie jene, die wir
auf den ersten Blick als gesellschaftlich bedingt erkennen. 336 Es gibt kein Dokument der Kultur, das nicht auch eines der Barbarei wäre, heißt es sinngemäß bei Benjamin. Wir stehen bezaubert
vor den Werken Myrons oder Tizians und übersehen den Friedhof unterdrückter Möglichkeiten, der sich unmittelbar dahinter erstreckt.
Schuldlos schuldig, gleich ihnen, ist das schöne Gesicht im Alltag. »Eigentum ist Diebstahl!« wetterte Proudhon. Die Schöpfungen
von Phantasie und Intellekt, Anmut, Grazie, das ganze Universum interesselosen Wohlgefallens, auch: Diebstahl? Gewiß, nur
ohne haftbaren Dieb. DAS Unrecht ist verjährt seit abertausend Jahren. Ein Feldzug gegen alles Schöne und Gelungene, auf seine
Auslöschung bedacht, wäre die reine Barbarei. – Also kein Prozeß, trotz Tatbestand? Jedenfalls kein rückwirkender. Auf die
Gegenwart, mehr noch auf die Zukunft bezogen, stiftet der Versuch einer Wiedergutmachung durchaus Sinn. Mehr dazu nach der
Vervollständigung des Protokolls gerechtfertigter Unterschiede.
8. Unter den gesellschaftlich umlaufenden Begründungen für die Ungleichheit unter den Menschen kommt dem Phänomen der VERANTWORTUNG
herausgehobene Bedeutung zu. Jemand genießt höheres Ansehen, gebietet über einen reicheren Fundus an Existenzmitteln, an Entfaltungsmöglichkeiten,
weil seine Funktion mit
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