Buerger, ohne Arbeit
Rumänen trifft. Armes Europa, das
sich von lauter Rasenden zerstücken und verhetzen läßt.
Die halbgebildete Kanaille freut sich des Gezerres; wenn es das eigene Land zerreißt, was tut’s? »Zum Glück halten sich weder
die Spanier noch die Portugiesen und schon gar nicht die Polen und Tschechen an das deutsche Dogma. Sie leisten sich kein
so ausgeklügeltes soziales Netz, weshalb sie auch niedrigere Arbeitskosten und, wenn sie und wir so weitermachen, bald auch
mehr Jobs anzubieten haben.« 382 Entweder Verallgemeinerung der deutschen, französischen, |326| skandinavischen Standards oder gänzlicher Verzicht auf politische Regulierung: als wäre der Raum des Denk- und Praktizierbaren
mit dieser dürftigen Antithese auch nur ansatzweise ausgefüllt.
Im Bereich der Europäischen Union eine einheitliche Währung einzuführen, Kriterien zu vereinbaren, die deren Stabilität gewährleisten,
ohne Wachstum und Beschäftigung zu fesseln, dazu reichte der Sachverstand von Regierenden und Experten. Und wenn er nicht
weit genug trug, Auseinandersetzungen über Abweichungen von den einmal festgesetzten Toleranzen nach sich zog, so steckte
er doch einen Rahmen ab, in dem nationale Interessenkonflikte sich bewegen konnten. – Was, außer Pflichtvergessenheit, könnte
die Verantwortlichen daran hindern, einen vergleichbaren Pakt zur sozialen Stabilität des Kontinents zu schließen? Er würde
dem Bedürfnis der jüngeren Mitglieder, wirtschaftlich aufzuholen, Folge leisten, sie im selben Zuge zur Gewährung sozialer
Garantien verpflichten, in dem sie diesem Ziel näherkommen, und sie ansonsten von der strikten Beobachtung der Regeln suspendieren.
Um in der Welt Respekt zu finden, sagen geopolitische Strategen, müsse sich Europa in Zukunft selbst verteidigen, seine Streitmacht
konzentrieren. Wäre es nicht vorausschauender, man bestimmte zunächst, was Europa geschichtlich zu verteidigen HAT? Der politische
Westen des Kontinents, als Erbe des Kalten Krieges mit der dazu erforderlichen Definitionsmacht ausgestattet, könnte immerhin
auf den epochalen Versuch verweisen, dem Kapitalismus menschliche Züge zu verleihen. Kein schlechter Ausgangspunkt für eine
kulturelle Offensive im globalen Raum. Statt dessen schämt man sich der Hinterlassenschaft, faßt sie nur mehr mit der Feuerzange
an.
4. Dahinter steckt ein feiger Realismus. Die kontinentaleuropäische Variante des modernen Kapitalismus sah sich spätestens
seit der Mitte der 1980er Jahre einem Angriff ausgesetzt, den sie bislang nicht zu parieren wußte. Seinerzeit |327| schworen
Reagonomics
und
Thatcherismus
die USA und Großbritannien auf einen neuen Akkumulationstyp ein. Er ahmte Züge des Finanzkapitalismus aus den ersten beiden
Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts nach, reproduzierte die Vorherrschaft des großen Geldkapitals über das im eigentlichen
Sinne »produktive« Anlagekapital, griff aber weiter. Das im unmittelbaren Produktionsprozeß investierte Geld wurde derselben
sprunghaften und kurzfristigen Rentabilitätslogik untertan wie das zu reinen Finanzoperationen bestimmte. Die eingetretene
Metamorphose unterläuft die gängige Terminologie, die den Postfordismus zum Erben der bisherigen Geschichte des Kapitalismus
erklärt. Die Zeit, in der wir leben, verlangt nach einem anderen Namen, nach kritischer Durchleuchtung der handelsüblichen
Begriffe.
Als Arbeitsweise, Produktionsregime, Wirtschafts- und Sozialmodell, so präsentierte sich bis dato der Fordismus. Sein Nachfolger
schloß an jede dieser Komponenten an, modifizierte sie und verknüpfte sie zu einer neuen Matrix. Die bis ins kleinste vorangetriebene
Aufspaltung der Arbeitsprozesse wich der Synthese, die Einzelarbeit der Gruppenarbeit, die am Körper ansetzende Disziplinierung
der geistig-motorischen Selbststeuerung, die stereotype Serie der in sich variablen, die Masse und die Massenkonsumtion dem
individualisierten Konformismus, die soziale und organisatorische Einbettung der einzelnen ihrer Freigabe für multiple Zwecke,
kommerzielle wie selbstbestimmte. In aller Hinsicht das Gegenteil seines Vorläufers, posiert der Postfordismus als kompakte,
in sich schlüssige Antwort auf die Probleme, die das fordistische Konzept überforderten, als Fortsetzung des Kapitalismus
mit zeitgemäßeren Methoden.
Die Pose verdeckt das Wesen der Entwicklung. Das angelsächsische Modell des Gegenwartskapitalismus entsprang der Chuzpe, den
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