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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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    Der flüchtige Anschein spricht für Normalisierung, für die Umstellung einer Arbeitsgesellschaft traditionellen Typs auf postindustrielle
     Verhältnisse. Tatsächlich handelt es sich um eine Attrappe. Die Zahlenkulisse suggeriert Kontinuität und verschleiert den
     Strukturbruch, der in diesem Zeitraum stattfand. Der ostdeutschen Gesellschaft kamen in weiten Teilen Wirtschaft und Arbeit
     abhanden. Schrumpfte die Bevölkerung allein im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung um etwa 6 Prozent, so die Zahl
     der Erwerbspersonen um 15 Prozent und die der Erwerbstätigen (unter Einbeziehung der Pendler) um phänomenale 30 Prozent. 392 In der seither vergangenen Zeitspanne setzten sich die Schrumpfungsprozesse weiter fort, und so will die Frage nicht verstummen,
     warum Massen- und Dauerarbeitslosigkeit, die sich nach 1990 schnell auf hohem Pegel konsolidierten, seither nicht wenigstens
     um ein Geringes zurückgingen.
    Dabei gab und gibt es eine ganze Reihe begünstigender Faktoren für eine – theoretische – Erholung. Der äußerst negative Wanderungs-
     und Geburtensaldo wies an sich in die Richtung einer merklichen Entspannung der Lehrstellen- und Arbeitsmärkte, um so nachdrücklicher,
     wenn man die Struktur der Abwanderung in Betracht zog. Die für Erwerbsarbeit in Frage kommende Personengruppe schwand stärker
     als die Gesamtbevölkerung, »ging« der Arbeit nach, in den Westen, die Jüngeren und geistig Beweglicheren voran. Unwillig,
     ihr Leben als minder bezahlte Dienstklasse |333| zu fristen, überließen sie die entsprechenden Angebote den Daheimgebliebenen. Die stürzten sich auf den Rest und blieben dennoch
     überzählig; das Kontingent der ortsansässigen Erwerbstätigen vermeldete die stärksten Abgänge, relativ wie absolut gesehen.
     Die Reihen lichteten sich, und das ist der erste Denkzettel der ostdeutschen Erfahrung, trotz der immensen Transferzahlungen
     von West nach Ost und ganz unbeeindruckt von der in der Regel außer-, das heißt untertariflichen Entlohnung im Osten Deutschlands.
     Weder die staatlichen Subventionen noch die Politik der billigen Arbeit lösten das Beschäftigungsproblem auch nur im Ansatz.
     Die Gründe dieses Versagens sind prinzipieller Natur und wurden im historischen Zusammenhang bereits erörtert (§ 16.2); gleiches
     gilt für das Spekulieren auf demographisches Gesundschrumpfen (§ 14.2).
    8. Die ausbleibende Regeneration der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft kennt weitere Ursachen; soweit sie in die Vergangenheit
     zurückweisen, sehr offenkundige. Die Wirtschaft der DDR verhöhnte so ziemlich alle Grundsätze einer rationellen Ökonomie;
     von kleinen Inseln und wenigen Segmenten abgesehen, vertrug sie keinen ungeschützten Wettbewerb mit marktförmig verfaßten
     Volkswirtschaften, und da man ihr Schutz nicht gewährte, ging sie zu großen Teilen unter. Politische Entscheidungen, noch
     während des Einigungsprozesses getroffen, allen voran die übergangslose Aufwertung der ostdeutschen Währung um vierhundert
     Prozent, beschleunigten die Abwärtsspirale, wickelten die exportorientierten Branchen auf monetärem Wege ab.
    Unternehmen und Geschäfte, die beide Wogen überstanden hatten, endgültig wegzuspülen, bedurfte es jetzt nur noch einer logistischen
     Meisterleistung der westdeutschen Wirtschaft. Sie lastete ihre Kapazitäten aus und versorgte die ihr zugewachsene Kundschaft
     zuverlässig bis ins entlegenste Dorf und von einem Tag zum anderen aus ihrem Warenlager. Neue industrielle Gründungen auf
     ostdeutschem Gebiet, rar gesät und fast niemals in ostdeutscher Hand, ließen die Vorstellung, |334| die vormalige Industrialisierungs- und Beschäftigungsdichte könnte auch nur ungefähr zurückgewonnen werden, endgültig platzen.
     Gleichsam auf den Trümmern des alten Maschinenzeitalters errichtet, technisch wie organisatorisch auf dem letzten Stand jeweils
     verfügbarer Kenntnisse, verschafften sie nur einem Bruchteil jener Menschen Arbeit, die dort zuvor ihr Auskommen gefunden
     hatte.
    Das ist der zweite Denkzettel der ostdeutschen Erfahrung, und der betrifft Gegenwart und Zukunft des Kapitalismus. Investitionssummen,
     Rekonstruktionsvorhaben, die in den 1950er, 1960er Jahren ausgereicht hätten, eine erschöpfte Arbeitsgesellschaft zu verjüngen,
     setzen heute allenfalls Kristallisationskerne wirtschaftlichen Lebens in die Landschaft, um die herum sich Sonderzonen mit
     eng begrenztem Radius formieren können. Als Flickenteppich aus

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