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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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seiner Existenz und seines Wirkens
     handelten sie für eine ganze ökonomische Epoche zumindest im wohlverstandenen Eigeninteresse, das heißt mit langfristiger
     Orientierung, mit größerer Umsicht und Bedachtsamkeit, als jeder einzelne je hätte mobilisieren können. Wenn sich ihr vom
     Gesamtwillen wieder abgenabelter Egoismus hinlänglich in der Welt ausgelebt haben wird, auch zu ihrem Nachteil, mag ihnen
     dämmern, was sie an ihm hatten.
    6. Postfordismus als Arbeitsweise, Organisationsmethode, Konsumtionstyp beschreibt eine Realität, aber eine untergeordnete:
     die vorherrschende Produktionsweise einer Wirtschaftsordnung, die ihren eigentlichen Reichtum gerade nicht mehr in Kategorien
     der Produktion ausdrückt. 390 Dennoch existieren Berührungspunkte, Schnittflächen. Der Postfordismus als flexibilisiertes Arrangement der Reichtumserzeugung
     erschütterte die bürgerliche Form der Lohnarbeit (§ 22.1) von innen: durch die Aufspaltung, Individualisierung der Arbeitsverhältnisse,
     vorteilhaft für eine Minderheit, problematisch für die Mehrheit; durch die gesteigerte Verwundbarkeit der Arbeits- und Lebensweisen
     allgemein.
    Der Börsenkapitalismus greift den bürgerlichen Erwerb von außen an, indem er zur globalen Treibjagd auf ihren Garanten bläst,
     auf den »sozialen Staat«. Rückspulende Entwicklung: vom Status zurück zum Kontrakt, Kündigung des Sozialeigentums, das in
     die Stelle eingeschrieben war, Bruch mit der Regel, derzufolge die gegenwärtige Arbeit Vorsorge trifft für die Wechselfälle
     des Lebens und für das Leben nach der Arbeit. In seiner konsequentesten Ausprägung, der angelsächsischen, bedroht er jede
     Form der Lohnarbeit, die bürgerliche wie die gemeine: weniger Beschäftigte, steigende Gewinne. Löste sich früher die Lohnarbeit
     aus der erdrückenden Umklammerung des Kapitals, um eigene Würde zu |331| gewinnen, so entledigt sich nun das Kapital der Lohnarbeit, die schon zufrieden wäre, wieder umarmt zu werden; philosophisch
     gesprochen: Der Herr entläßt, zum Ansporn seiner Dienstbereitschaft, den dienstbereiten Knecht.
    Sichfügen in Arbeit, die kein Leben trägt, aufs neue Dienen lernen, wie ein anspruchsloser Knecht; die Not der einen ist das
     Frohlocken der anderen. Die Schulen der neuen Dienstbarkeit öffnen
around the clock
: in der Dienstleistungsökonomie. Hier ruht, so wollen es die Priester der Arbeitsreligion, die Zukunft des Erwerbs. Und gerade
     hier sei Deutschland ein Entwicklungsland. Statt diesen Sektor als Vorbild zur Neudefinition der Arbeit, zur Durchsetzung
     unverbindlicher Verbindlichkeiten auszurufen, behandele ihn die Politik noch immer als Seitenzweig der bürgerlichen Lohnarbeit.
     Statt in dieser am wenigsten von Traditionen belasteten Sphäre das neue Proletariat heranzuziehen, die anspruchslosen Taschenträger
     des Mittelstands, begnüge sie sich mit halbherzigen Deregulierungen, die Hunderttausende von Arbeitsplätzen kosten.
    Das deutsche Beispiel, unvoreingenommen ausgewertet, führt einen anderen Beweis. Gesellschaften, die am Institut der »guten«
     Arbeit festhalten, in jedem Beschäftigungssegment, erteilen die einzig redliche Antwort auf die Frage nach den Perspektiven
     lohnender Erwerbsarbeit für jedermann – eine abschlägige – und halten die eigentliche Zukunftsfrage dadurch offen: Wie können
     die Folgen auskömmlicher Löhne und gehobener sozialer Standards, höchste Produktivität und starker Rationalisierungsdruck,
     trotz sinkenden Arbeitsvolumens und schwindender Binnennachfrage (denn wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen) in allgemeine
     Wohlfahrt münden? Eine hypothetische Frage, haben sich doch auch die Regierenden in Deutschland zur Umkehr, zur Unterwerfung
     unter die Geschäftsbedingungen des angelsächsischen Kapitalismus entschlossen, halb mitgerissen von dem Strudel und halb vergrämt.
     Geben wir ihnen etwas in Ruhe zu bedenken.
    |332| 7. Die ostdeutsche Erfahrung seit dem 1989er Umbruch, beispielsweise. Der wirtschaftliche Strukturwandel, der in den Stammländern
     des Kapitalismus Jahrzehnte in Anspruch nahm, vollzog sich hier zeitlich ernorm gedrängt. Die relative Erwerbsquote der Landwirtschaft
     sank von rund 10 Prozent 1989 auf ganze 3,6 Prozent anno 2000 (alte Bundesländer: 2,5 Prozent), der Anteil des produktiven
     Gewerbes an der Gesamtbeschäftigung fiel von 45 auf 31,2 Prozent (33,5 Prozent), der des Dienstleistungsbereichs stieg parallel
     von 45 auf 65,2 Prozent (64 Prozent).

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