Buerger, ohne Arbeit
Betriebszugehörigkeit
und: ›Wie kommt’s, daß du nicht mehr als ich hast?‹ und der Typ, der mehr als ich hat, sagt zu mir: ›Sieh mal an! Geh mal
zu deinem Chef, du hast eine längere Betriebszugehörigkeit als ich, aber weniger Geld …‹«
Diese Erzählungen sind nicht frei von Verklärung. Der Lohnvergleich erfüllte immer zwei Funktionen, eine innen- und eine außenpolitische.
Nach innen disziplinierte er den einzelnen, nach außen und oben stärkte er ihm den Rücken. Mit derselben Leidenschaft, mit
der man Ungerechtigkeiten in der Bezahlung anprangerte, die der Leitung anzulasten waren, erteilte man jenen eine Lektion,
die sich heimlich einen Vorteil erschlichen hatten. Auf einem Auge sozial blind, sind diese Auskünfte von innen gleichwohl
von theoretischem Interesse. Sie beleuchten die Schattenseiten der neuen Freiheit in der Arbeit. Arbeit hob Momente des Herstellens
in sich auf, war wieder unmittelbar als sozialer Vorgang konzipiert, als gruppendynamischer Prozeß. Nur war der Zugewinn an
Selbständigkeit und Verantwortung von wachsender An- und Einspannung der einzelnen begleitet, und das in die Arbeit wieder
eingeführte Soziale gehörte den Arbeitern nicht mehr, gehorchte nicht länger ihrem Willen oder doch nur insofern, als sich
dieser Wille mit dem Unternehmerwillen deckt, sie bei Bedarf auch GEGENEINANDER in Position zu bringen.
5. Wie gewöhnlich in dialektischen Zusammenhängen stimmt auch das Gegenteil. Das postfordistische Produktionsregime schließt
die Beschäftigten fester ins Gewebe |65| wirtschaftlicher Machtausübung ein als der Fordismus das je vermochte. Aber gleichzeitig zeigen sich Art und Methoden dieses
Einschlusses mit vitalen Bedürfnissen der Eingeschlossenen auch weit verträglicher als je zuvor. Sie lassen die praktischen
und sozialen Sinne wieder rege werden, wecken geistige Interessen in der Arbeit und über sie hinaus, fordern und fördern Zuständigkeit
auch jenseits des persönlichen Aufgabenkreises, schaffen Handlungs- und Spielräume, die es so bislang nicht gab. Auf- und
Abforderungscharakter der Arbeit verzeichneten im Verlauf der zurückliegenden Jahrzehnte per Saldo unbestreitbare Fortschritte.
Mag der Postfordismus alles unternehmen, um die »gefühlten« Freiheiten über die realen hinausschießen zu lassen – den faktischen
Freiheitsgewinn zu leugnen wäre nur ein weiteres Lehrstück ideologischer Ideologiekritik. Die neue Freiheit in der Arbeit
ist in hohem Maße mehrdeutig, aber sie ist keinesfalls ausschließlich eine »vorgegaukelte Freiheit« 59 . Dennoch hören die Fragen nicht auf. Welche subjektiven Potentiale, erregen sich Kritiker des gegenwärtigen Kapitalismus,
können in einem technisch-technologischen Regime liegen, das von den ökonomischen Eliten ersonnen und weltweit gegen Widerstände
durchgesetzt wurde? Sind aufgezwungene Freiheiten nicht ein Widerspruch in sich? Befinden sich nicht doch all jene im Recht,
die in der neuen Arbeitsweise vor allem eine raffinierte Methode der Mächtigen sehen, der Arbeiterschaft mehr Leistung abzupressen?
Hat die ökonomische Disziplinierung am Ende nur das Kostüm gewechselt und trägt Sonntagsstaat, um das alltägliche Leiden an
der fortbestehenden Unterdrückung zu kaschieren?
Nichts ist materieller, physischer, körperlicher als die Ausübung der Macht. Die Macht, wirtschaftliche so gut wie politische,
besetzt den Körper, schleicht sich in ihn ein, analysiert seine Funktionen, steigert ihre Effizienz und setzt sie zu immer
neuen Ablaufschemata zusammen. Die am Körper angreifenden, ihn durchdringenden Machtstrategien |66| charakterisieren die Gewaltverhältnisse einer gegebenen Gesellschaft auf niedrigstem Niveau. Der klassische Industriekapitalismus
disziplinierte den Körper auf eine schwere, drückende, beständige und peinlich genaue Weise. Er zerlegte ihn in seine kleinsten
verwertbaren Operationen, unterwarf ihn einem öden Repetitorium infinitesimaler Gesten. Michel Foucault, der Theoretiker schlechthin
dieser modernen Disziplinargesellschaft, hatte deren Matrix in Jeremy Benthams
Panopticon
aufgespürt, diesem Entwurf eines »wissenschaftlichen Gefängnisses« mit ausgeklügelter Kontroll- und Überwachungsarchitektur.
Zum Panoptismus verallgemeinert, habe sie das Gefängnis verlassen, um Kasernen, Schulen, Fabriken ihren Organisationsprinzipien
gemäß umzugestalten. In den 1960er Jahren sei der Panoptismus als universelle
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