Buerger, ohne Arbeit
es nicht, und was
er weiß, klingt nicht nach Lösung:
»Es gibt kein ›soziales Subjekt‹, das eine Umverteilung der Arbeit politisch oder kulturell durchsetzen könnte …«
69 Die historische Flaute des Subjekts: Könnte sie vielleicht an falsch gewählten Zielen liegen, an wenig attraktiven? Ist |71| »Umverteilung der Arbeit« kühn genug gedacht, um Menschen für Neues zu begeistern? Alles spricht, erneut, für Inspektion.
4. Wenn sämtliche kollektiven Hoffnungsträger verbraucht sind, bleibt nur das Individuum auf dem geschichtlichen Plan. Nur:
An welches wendet man sich und mit welcher Absicht? Wozu ließe sich das banalisierte Individuum aufrufen? Verfügt es doch
weder über »gute« Arbeit, die es mit anderen teilen könnte, noch kann (und darf) es seinen Job wie etwas Fremdes von sich
abtun. Schließlich soll es Arbeiter bleiben! Auf dem Boden der Arbeitsgesellschaft müssen sich alle Erwartungen auf die Privilegierten
richten. Sie allein erfahren Autonomie noch innerhalb der Heteronomie, nur sie könnten versucht sein, nach der ganzen Freiheit
zu greifen. – Eine allzu vage Ambition. Denn dieselbe privilegierte Lage konserviert Ansichten und Bestrebungen, hält sie
in der Umlaufbahn des Privilegs. Das soziale Vorrecht liebt die Gegenwart mehr als die Zukunft, und sofern es sich überhaupt
an die Zukunft verschwendet, umgarnt es sie als fortgesetzte Gegenwart. Der Appell an die glücklichen Arbeitenden führt nur
zur Steißgeburt der Utopie. Verzagt läßt Gorz von diesem falschen Trachten ab, um sich dem Individuum ohne fest umschriebene
soziale Eigenschaften zuzuwenden. Das zeigt sich von seiner besten Seite, nämlich unbestimmt, zu vielem aufgelegt: »Individualisierung
ist die Chance der Befreiung aus vielen Zwängen der Arbeit, der Familie, der Alltagskultur, aber birgt auch die Gefahr der
Abkapselung, der Vereinzelung, der Zerstörung von Solidarität.« 70
Welche gesellschaftliche Alternative sollte aus dieser Ambivalenz erwachsen? Keine bestimmte, würde der Gorz dieser Jahre
zur Antwort geben. Individuum und Individualisierung verkörpern keinen konkreten Gegenentwurf zum krud Gegebenen. Das einzige
Versprechen, das sie in sich tragen, ist nicht diese oder jene Alternative, sondern etwas viel Abstrakteres – die pure Möglichkeit
von Veränderung, |72| Alternativität. – Und woraus schöpft das Individuum dieses fundamentale Vermögen? – Aus niemand anderem als aus sich selbst,
aus dem Umstand, daß es Individuum ist, einmaliges, unverwechselbares Wesen, das heißt gerade aus dem Nichtzusammenfallen
von Person und gesellschaftlicher Identität.
5. Der vorläufig letzte, unsichere Garant des Neuen ist der »ureigene Riß« im Subjekt, der es daran hindert, in seinen gesellschaftlichen
Rollen und Funktionen aufzugehen. In seiner Not, dem Neuen wenigstens einen Namen zu geben, überschreitet Gorz die Grenzen
der Soziologie, flüchtet er sich zu einer behelfsmäßigen Anthropologie, die Sozialisierung wesentlich als Zwang begreift,
als List, Verführung, Disziplin, erzieherische Vergewaltigung. 71 Nur in den Zwischenräumen des Systems, in den Lücken der Sprache behaupteten sich Reste von Zweifel und Eigensinn gegen die
Verwüstungen der sozialen Welt. In diesem desperaten Panorama bedrohen, ja zerstören alle gesellschaftlichen Vermittlungen
und Institutionen die moralische Integrität des Menschen, ist Moral nur außerhalb der Gesellschaft herstellbar. Einzig die
singuläre Welt der ursprünglich gelebten Erfahrung legt noch Berufung gegen die massenhafte Verzwergung des Menschen ein.
Gorz steht mit dieser Ansicht nicht allein. Zygmunt Bauman, ein anderer einflußreicher Soziologe unserer Zeit, teilt dieselbe
Perspektive, wenn er die Distanz zum Feind der Moral erklärt, in der Gesellschaft nur den großen Menschenfresser sieht. Nur
das aus der Gesellschaft herausgelöste Individuum sei zu Autonomie und Selbstbestimmung fähig. 72 Im Bann dieser Gleichsetzungen hat Soziologie nur eine Zukunft – als Dämonologie. Um die bösen Geister wieder aus dem soziologischen
Denken zu vertreiben, muß man den Weg zurückverfolgen, auf dem sie Einzug hielten. Er führt zu den Megaverbrechen des zwanzigsten
Jahrhunderts und zu einem Denker, der Soziologen wie kein anderer das Fürchten vor ihrem eigenen Gegenstand gelehrt hat.
|73|
§ 9 Der Dritte; ICH und Ich
1. Daß unser Bewußtsein von der Welt unsere Beziehung zur Welt niemals
Weitere Kostenlose Bücher