Buerger, ohne Arbeit
erschöpft, daß Denken in Praxis verwickelt, Teil eines
existentiellen Dramas ist, gehört zum Einmaleins jeder Philosophie, die den Menschen nicht auf ein Verstandeswesen reduziert.
Diesen Grundsatz methodisch einzulösen, auf daß die irdischen Abenteuer des Bewußtseins, seine Gestalten und Gestaltwandel
selber ins Bewußtsein treten, war und blieb bis heute das Privileg der philosophischen Phänomenologie. Einer der Großen dieses
von Hegel sich herleitenden Unternehmens ist der 1906 im litauischen Kaunas geborene, seit Anfang der zwanziger Jahre in Frankreich
lebende jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas. An Husserl und Heidegger geschult, gilt ihm das In-der-Welt-Sein der Menschen,
das an ihre Sinne und Körper gebundene Er-fassen und Be-greifen dieser Welt als Inbegriff des Weltverstehens. Daß er nicht
Lehrling blieb, sondern selbst zum Meister wurde, hängt mit einer Einsicht zusammen, die er zeitig faßte und der er ein Leben
lang die Treue hielt. Denn etwas, fand er, gibt es doch, das nicht zur Ordnung des Verstehens gehört, jedem wirklich menschlichen
Verstehen vielmehr vorausgeht: die Begegnung mit dem Anderen, dem Nächsten. Diese Urszene einzukreisen, ihr Geheimnis auf
Geheimnis zu entreißen, wurde seine philosophische Passion.
Die Begegnung mit dem Anderen, wie Lévinas sie sieht, ist kein Bestimmen und kein Benennen, sondern »Ereignis« im reinsten
Sinn des Wortes, absoluter Vorrang des namenlosen Erlebens vor dem Verstehen; Einbruch einer anderen, undurchdringlich fremden
Welt in unsere eigene; Krise unserer Macht, der der Andere spottet, und insofern tiefste Verunsicherung, aber zugleich auch
dringlichste, an niemanden wegzudelegierende Aufforderung, ihn nicht allein zu lassen, Verantwortung für ihn zu übernehmen.
Was uns diesem Appell zuletzt wehrlos ausliefert, sei das Antlitz des |74| Anderen, und zwar jenseits der plastischen Formen, die nicht müde werden, es wie mit einer Maske zu umhüllen. »Unablässig
durchbricht es diese Formen. Vor jedem besonderen Ausdruck Nacktheit und Armut des Ausdrucks als solchem, das heißt soviel
wie der äußerste Ausdruck, die Wehrlosigkeit, die Verletzlichkeit selbst. Direktheit des unvorhersehbarem Tod und geheimnisvoller
Vereinzelung Ausgesetztsein.« 73 Der »Einbruch des Antlitzes in die phänomenale Ordnung der Erscheinungen« revidiert alle bisherigen Gewißheiten. Das vorgeblich
Letzte, die vom gesellschaftlichen Ganzen abgeleitete und getragene Begegnung zweier Menschen wird so zum Ersten, Gründenden:
»Einsetzen der Sozialität durch eine Beziehung, die nicht auf das Verstehen reduzierbar ist«. Daß uns Dinge überhaupt als
»Objekte« einer Außenwelt gegenübertreten können, verdanken wir der Erfahrung eines lebendigen Gegenüber, das nicht in unserer
Macht steht, vielmehr aus eigenem Recht und Antrieb existiert und als solches Respekt verdient. »Die Bedingung des Denkens
ist Gewissen«, sagt Lévinas, und wer ihm darin folgt, Moral, Gewissen für das Letzte an Begründung hält, hat soziologisch
die Waffen gestreckt.
2. Hätte Lévinas hier innegehalten, käme er heute wohl hauptsächlich als Ausgestalter und Vollender eines anderen in Betracht
– des deutsch-jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber. Daß alles wirkliche Leben »Begegnung« ist, daß der Mensch »am Du
zum Ich« erwache, daß die »Verantwortung eines Ich für ein Du« Menschen überhaupt erst befähigt, andere Welten, Logos, Kosmos,
Göttliches, zu erfahren, war die Grundidee seines 1923 publizierten Geniestreichs
Ich und Du
. Allerdings zahlte Buber für seine ekstatische Feier der mitmenschlichen Beziehung, der Dyade, keinen geringen Preis. Je
überschwenglicher er die »Du-Welt« besang, desto niedriger und verwerflicher erschien ihm deren Gegenstück, die »Es-Welt«.
Jenseits der unmittelbaren Begegnung zweier Menschen begann das öde und zermürbende Reich der Interessen, der Zwecke und Mittel, |75| die banale Abwicklung des Ereignisses durch Institutionen, die »Krankheit« der Moderne.
Es spricht für Lévinas, daß er gegen diesen Dualismus anfocht und nach den Brücken suchte, die die intime Gemeinschaft mit
der umfassenderen Gesellschaft verbinden. Die begriffliche Chiffre, unter der Bubers Es-Welt in seinen Betrachtungen auftaucht,
ist »der Dritte«. Da merkt man auf. Ist die philosophische Phänomenologie einer echten Würdigung des Dritten fähig? Kann sie
dem Dritten ganz wie dem
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