Buerger, ohne Arbeit
Austritt, sofern er nicht mit dem Tod zusammenfällt, setzt einen
rechtlichen Austrittsakt voraus, die Auswanderung zum Beispiel. Solange das Individuum dazugehört, taucht es als Ganzes in
diese Sphären ein. Statt SICH zu sozialisieren, WIRD es sozialisiert, zunächst jedenfalls. Ob bzw. in welchem Maße das passive
Geschehen in ein aktives übergeht, in Mitgestalten, Mitbewirken, hängt von Umständen ab, die sich der Beeinflussung durch
die einzelnen weitgehend entziehen.
Nicht Sozialisierung – SOZIALISATION ist das Problem. Es gewinnt an Schärfe bis hin zur Ausweglosigkeit, wenn die norm- und
formgebenden Instanzen keinen Widerspruch dulden, wenn ihre Losung nicht Reifung, sondern Unterwerfung lautet, Versklavung,
Knechtung im Namen ideologischer Projekte. »Gesellschaft« ist dann nur ein anderes |80| Wort für »Terror«, und gegen Terror kann sich allein moralisches Gardemaß behaupten, der tragische Held. Soziologie dankt
ab. Was bleibt, sind Prognosen über die ethische Restlaufzeit des Ganzen und die Hoffnung auf besseres Wetter.
6. Nur, noch einmal gefragt: Beschreibt das glaubhaft unsere Situation? Und eindringlicher: Kann das Objekt des Soziologen,
die Gesellschaft, jemals wirklich sterben? Überleben Reste sozialen Lebens, aus denen es sich erneuern kann, nicht doch den
Kältetod des Ganzen? Kann Sozialisation als passives, erlittenes Geschehen Sozialisierung ohne jeden Widerhall verdrängen?
Ist die leise Stimme der Kritik in die Identität des modernen Menschen nicht unauslöschlich eingebaut?
Die jüngere Sozialpsychologie hegt diesbezüglich keinen Zweifel: Subjekt und Selbst sind in sich different, gewissermaßen
doppelt da. Im Prozeß des Hineinwachsens in die Gesellschaft übernimmt das Individuum die Haltung der gesellschaftlichen Gruppen,
denen es angehört, eignet es sich, auch durch Sanktionen, die Regeln und Normen an, die das Zusammenwirken organisieren. Im
Ergebnis dieser sich überlappenden Sozialisation erwirbt es seine kollektive Identität, sein »ICH«. Dasselbe Individuum reagiert
auf seinen gesellschaftlichen Formungsprozeß, beurteilt, bewertet, bezweifelt, kritisiert ihn, wodurch der persönliche Aspekt
seiner Identität gefördert wird, sein »Ich«. George H. Mead, der dieses Modell entwickelte, erläuterte es gern durch den Vergleich
zum Mannschaftssport. Um ein guter Mitspieler zu werden, muß sich der einzelne in die Haltung aller anderen Spieler, des eigenen
wie des gegnerischen Teams, hineinversetzen, die möglichen Spielzüge antizipieren können. Er lernt, das Spiel zu »lesen«,
erlaubte von unerlaubten Spielzügen zu unterscheiden, Regeln zu beobachten und trickreich außer Kraft zu setzen, kurz: er
wird Teil des Spiels, vieler Spiele, ein kompetenter, ordentlicher Spieler, der sich in eine vorgegebene Ordnung einfügt.
|81| Jedoch, was wäre ein Spiel ohne Experimente, Erfindungen, ohne den Versuch, neue, überraschenden Spielzüge auszuprobieren,
Züge, die die vereinbarten Regeln implizit in Frage stellen? Finden andere an den erweiterten Spielmöglichkeiten Gefallen,
ist der Zeitpunkt einer Überprüfung des bestehenden Regelsystems absehbar. Diese Spannung ist immer gegeben, im Spiel wie
im Ernst des Lebens, nur tritt sie nicht immer offen zutage, verharrt mitunter für längere Zeit in der Latenz, namentlich
in einfacher organisierten Gemeinwesen, in denen die einzelne Gruppe deckungsgleich mit der Gesellschaft ist, Gesellschaft
wesentlich als Gemeinschaft existiert. Hier gibt es nur wenig Raum für Individualität, für originelles, schöpferisches, von
der Norm abweichendes Denken.
In sozial und funktional stärker differenzierten Gesellschaften prägt sich schon die kollektive Identität, das ICH, in unterschiedlichen
Kontexten aus, als ICH und ICH und ICH, muß das in sie eingeschaltete Individuum auf mehrere, auch widerstreitende Forderungen
reagieren, wodurch es in eine beobachtende, vergleichend-abwägende Haltung geradezu hineingezwungen wird. Sozialisiertwerden
im Plural ist schon an sich ein brüchiger, zu Brüchen Anlaß gebender Prozeß, der sein Gegenüber, Sozialisierung, aktive Stellungnahme,
das Ich der vielen ICH, gewissermaßen aus sich herausprovoziert. Das Subjekt ist gar nicht imstande, »völlig in der Identität
aufzugehen, die ihm seine soziale Zugehörigkeit verleiht«, wie Gorz dachte, weil es diese Zugehörigkeit nur vor dem Hintergrund
einer zweideutigen Identität
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