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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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bleibt dem wahrhaft Gerechten nur noch die symbolische Tat, um einer besseren, menschlicheren
     Welt den Weg zu weisen; die innige Beschwörung einer bedingungslosen Liebe, einer »Liebe ohne Begehren«, die die Welt der
     Institutionen periodisch aufrüttelt. »Ein Anachronismus, der schmunzeln läßt«, wäre da nicht die Barbarei des zwanzigsten
     Jahrhunderts!
    Warum Lévinas der institutionellen Alternative zum »ethischen Extremismus« des Gerechtigkeitsstrebens keine faire Chance einräumt,
     warum er sie in eine geistige Nische verbannt, ist nur allzuverständlich. Sein lebenslanges Plädoyer für den Anderen, für
     Nähe, für einen »reinen Altruismus der Verantwortlichkeit«, der nach Erwiderung nicht fragt, ist durch eine Erfahrung dieses
     Jahrhunderts verbürgt, die gerade ihn, den jüdischen Philosophen, nicht loslassen konnte. Es ist die Erfahrung der Geschundenen
     und Verzweifelten, all derer, die sich auf nichts mehr berufen konnten, am allerwenigsten auf »Institutionen«, und deren Überleben,
     so unwahrscheinlich es immer sein mochte, davon abhing, daß wenigstens ein Mensch sich ihrer Verzweiflung und Verlassenheit
     annahm, der »Vorladung« des entsetzten Antlitzes gehorchte. Diese Erfahrung treibt den |78| ethischen Rigorismus auf die Spitze, zeugt Metaphern, die keine Schwäche kennen und jeden beschämen, der seine Augen nur einmal
     vor dem Unrecht verschloß. »Der Mensch als Geisel für alle anderen ist für die Menschen notwendig, denn ohne ihn würde keine
     Moral nirgends beginnen. Das Wenige an Freigebigkeit, das sich in der Welt ergibt, fordert es nicht weniger. Das Judentum
     hat es gelehrt. Sein der Verfolgung Ausgesetztsein ist vielleicht nur eine Vollendung dieser Lehre – eine geheimnisvolle Vollendung,
     da sie ohne das Wissen der Vollender geschieht.«
    So spricht eine dem »Opfer« gewidmete Philosophie, in der Hoffnung, dadurch dem Leiden und Sterben von Millionen unschuldiger
     Menschen eine Perspektive zu weisen, in der wir uns alle wiederfinden. »Alle Menschen sind füreinander verantwortlich, und
     ich mehr als alle anderen.« Um diesen »Wahnsinnsgedanken«, der in letzter Konsequenz die »Furcht vor dem Tod der anderen«
     über die eigenen Todesängste stellt, ganz verstehen zu können, muß man seelisch oder leibhaftig durch die Hölle gegangen sein.
     Wo Institutionen, Regeln und Verfahren nur mehr »Mord« bedeuten, zehrt das wenige Gute, das dann noch geschieht, ausschließlich
     von der menschlichen Substanz. Daher die gnadenlose Unmittelbarkeit vieler vom Holocaust her gedachten Ethiken.
    Ist es deshalb zwingend oder auch nur naheliegend, die Soziologie der Gegenwart auf den Ausnahmezustand einzuschwören? Treibt
     das soziale Universum unwiderruflich dem moralischen Kältetod entgegen? Sind die Repräsentationen des »Dritten« ebenso viele
     Arme und Tentakeln einer furchterregenden Krake, die das Individuum erdrosseln? Ist »Sozialisierung« nur der Vorwand eines
     permanenten Kriegszugs gegen das Subjekt? Oder formieren sich Individualität, Zweifel und Kritik erst in ihrem Gefolge?
    5. Die symbiotische Beziehung von Mensch und Gesellschaft in einen polaren Gegensatz aufzulösen ist kein bloßes Mißverständnis.
     Vergesellschaftungsprozesse, Schübe |79| von Kollektiv- und Gruppenbildung verlaufen selten harmonisch, im Einklang und im Zusammenstimmen aller an ihnen beteiligten
     Individuen. Das neu sich herausbildende Ganze kann Ganzes, wirklich umfassendere Einheit nur sein, wenn es die einzelnen tatsächlich
     integriert, in seinem Strom mitreißt. Einmal zusammengesetzt, neigt es dazu, sich über das Zusammensetzende zu erheben, zu
     verselbständigen. So lange die einzelnen jederzeit aus eigenem Entschluß aus dem Verbund wieder austreten können, bedeutet
     das kein gravierendes Problem. Das Prinzip des freien Ein- und Austritts mindert die Verselbständigungsgefahr, zwingt sie
     in die Grenzen des mit dem freien Willen aller Beteiligten Vereinbaren. Man verfolgt eigene Interessen »organisiert«, gemeinsam
     mit anderen, sofern der nach innen wirkende Organisationsdruck erträglich und der äußere zweckdienlich, erfolgversprechend
     ist. Repräsentanten und Sprecher wissen um diese Kondition oder werden durch Organisationsflucht an sie erinnert, wenn sie
     sie aus übertriebenem Ehrgeiz ignorieren. Im Fall der Familie, der Nation oder des Staates gestalten sich die Dinge anders.
     Der Eintritt erfolgt ohne Zustimmung durch Geburt und der

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