Buerger, ohne Arbeit
Anderen Rechnung tragen – als anonymem Jemand, der eine Ebene des sozialen Austauschs anzeigt, auf
der Menschen sich in der emotionalen entspannten Perspektive der dritten Person begegnen, als Jedermann? Lévinas hat mit diesem
Problem ein Leben lang gerungen, ohne zu einer abschließenden Lösung zu gelangen. Er kann sich nicht entscheiden, welchen
Ort er dem Dritten geben soll: zweiter Nächster, vom Ich aus gesehen, oder Dritter für sich selbst, befaßt mit anderen Dritten.
3. In der ersten Version agiert der Dritte vornehmlich als Störenfried, der das Ich zu einer unliebsamen Entscheidung zwingt.
»Der Dritte ist selbst auch ein Nächster und obliegt auch der Verantwortung des Ich. Nun entsteht durch diesen Dritten die
Nähe einer Vielheit von Menschen. Wer kommt in dieser Vielheit vor dem anderen? Hier sind Zeit und Ort der Entstehung der
Frage, der Forderung nach Gerechtigkeit!« Nur, was ist Gerechtigkeit noch wert, wenn sie der Einzigartigkeit des Anderen den
Respekt verweigert, wenn sie sich darauf einläßt, abzuwägen, zu vergleichen, Rangordnungen aufzustellen? Nächsten mit Distanz
zu begegnen, sie im Licht von Pflichten zu objektivieren, die durch sie hindurchgreifen, erscheint dem Philosophen zutiefst
verwerflich, als »Untreue«, als »Verrat« einer heiligen Mission. In diesen Diskurs eingeschlossen, immer wieder zum Schweigen
gebracht, tut sich die rivalisierende Vorstellung vom Dritten schwer, ihre eigene Rede zu führen. Aber manchmal gelingt es
doch. Dann zeichnet sich ein Raum der |76| menschlichen Beziehungen ab, in dem Gesetze gelten, die ihre Autorität nicht aus Liebe, Versprechen und Verzeihen schöpfen;
ein Miteinander, das dort beginnt, wo die intime Gemeinschaft aufhört; eine komplexere Gegenseitigkeit, die weniger die Handlungen
selbst als vielmehr die indirekten und langfristigen Folgen betrifft, die jedes echte Handeln heraufbeschwört; eine rein gesellschaftliche
»Beziehung zwischen Freiheiten«, die Macht, Institutionen und Geld ins Spiel bringt und die »zu Recht jeder Beziehung zwischen
Menschen mißtraut, die nicht zuvor eine ökonomische Beziehung war«. Paradox, aber wahr: Erst die gesellschaftliche Abkühlung
der menschlichen Beziehungen befreit die Menschen zu humaner Nähe, weil sie im Konfliktfall Repräsentanten des Dritten einschalten
können, sei es den Dritten als (staatlichen) Vermittler, sei es das Dritte als Recht oder Geld. »Böses bringt Böses hervor
und das Verzeihen ohne Ende ermutigt es. Das ist der Lauf der Geschichte. Doch die Gerechtigkeit unterbricht diese Geschichte.
Das Geld deutet eine Gerechtigkeit des Loskaufs an, die aus dem Teufelskreis der Rache und Vergebung erlöst.«
Liebe, die niemals ruht, zerstört sich selbst. Wie überlebensnotwendig solche Ruhepole gerade für Menschen sind, die ihre
ganze Erfüllung in der Ich-Du-Beziehung finden, war schon Buber aufgegangen. Auch Liebende können erkranken, in Gewissensnöte
fallen oder schlicht mit ihrem Latein am Ende sein. Dann werden sie dankbar auf die Dienste eines Arztes, eines Seelsorgers
oder eines weisen Lehrers zurückgreifen und sich keinen Deut darum scheren, daß diese Beziehungen der »vollen Gegenseitigkeit«
entraten müssen. Lévinas bereichert die Liste dieser hilfreichen Gestalten aus dem »Es« um den Psychoanalytiker, vor allem
um den Richter, um in der Sache noch deutlicher zu werden: »Gerade im Namen der absoluten Verpflichtung gegenüber dem Nächsten
muß die absolute Untertänigkeit, die er fordert, in einem gewissen Maße aufgehoben werden. Damit entsteht das Problem einer
neuen Ordnung … Der |77| einzelne öffnet sich dem Frieden der Menschheit durch den Staat, die Institutionen, die Politik.« Hier wird der Phänomenologe
Soziologe.
4. Nur momentan. Lévinas stellt den Ausnahmezustand ins Zentrum seines Denkens, und weil er das tut, sind ihm Mittler und
Vermittlungen, die ganze Welt des Dritten niemals mehr als ein Notbehelf der Menschlichkeit. Vom Institutionensystem entlastet,
scheinbar beruhigt, gleichzeitig außerstande, Verantwortung wirklich an unpersönliche Mächte abzutreten, durchleidet die moralische
Person eine Seelenqual nach der anderen. »Man erholt sich davon so schlecht wie recht durch Wohltätigkeit, durch anklopfende
Nächstenliebe, durch Almosen für die Armen, durch Philanthropie, durch eine Bevorzugung des ersten besten, der einem über
den Weg läuft.« Damit unzufrieden,
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