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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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Lasten nach unten UND nach außen ab. Verschieden sind die Materialien,
     die die Lasten tragen, die Spannung halten müssen; dort Glas, Stahl und Beton, hier, noch immer, Menschen.

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    |111| Der Grund der Existenz
    § 14 Verlorene Jahre
    1. Ängste spielen eine unentbehrliche Rolle im gesellschaftlichen Lebensprozeß des Menschen; sie aus ihm gänzlich zu verbannen
     ist eine flache Utopie. Ohne die Angst davor, anderen Menschen absichtlich Schaden zuzufügen, sie für unerlaubte Zwecke einzuspannen
     oder sie sogar zu töten, würde das Leben im Inneren der Gemeinschaften bald unerträglich werden, und die gelegentliche Erlaubnis,
     ja Aufforderung, Menschen außerhalb der eigenen Grenzen mit Gewalt, in ausdrücklicher Tötungsabsicht zu begegnen, ist durch
     das Wort »Krieg« hinlänglich als Ausnahmezustand charakterisiert. Eine andere Frage ist, ob die Ängste, die Menschen einer
     bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort beherrschen, für ihr gedeihliches Zusammenleben und Zusammenwirken wirklich unentbehrlich
     sind. Sie kann nur nach eingehender Prüfung der jeweiligen Gegebenheiten entschieden werden. Sehr viel leichter läßt sich
     die Frage nach der Ratio EXISTENTIELLER Ängste beantworten. Sofern sie nicht durch außergewöhnliche Ursachen hervorgerufen
     werden, durch Seuchen, Hungersnöte, Naturkatastrophen oder eben durch Kriege, sondern durch die Gemeinschaft selbst, durch
     die Art und Weise ihrer sozialen und politischen Organisation, sind sie nicht zu rechtfertigen. Gemeinschaften, die ihren
     Zusammenhalt auf manifeste Überlebensängste einer großen Zahl von Menschen stützen, widersprechen ihrem Zweck, das Leben nach
     innen zu befrieden, und laufen Gefahr, von unten erschüttert oder zerrissen zu werden. Das Untergeschoß des Gesellschaftsbaus
     von solchen Ängsten zu entrümpeln, den Menschen Grund zu geben, fraglosen, auf dem sie sich möglichst frei bewegen können,
     liegt letztlich im Interesse aller miteinander interdependenten Gruppen. Vor diesem Hintergrund |112| erscheint die Moderne als ein einziger, grotesker Widerspruch. Sie proklamierte das Menschenrecht auf Freiheit von existentiellen
     Ängsten und untergrub es wie keine historische Formation zuvor. Seit mehr als zwei Jahrhunderten heftet sich die Reflexion
     an diesen Widerspruch, schiebt sie ihn in immer neuen Wendungen als »soziale Frage« vor sich her; mit welchen Einsichten und
     Konsequenzen, wird im folgenden Kapitel zu betrachten sein.
    Hier geht es zunächst um eine kürzere Zeitspanne, um die Periode von den 1960er Jahren bis zur Gegenwart. Im Verlauf dieser
     Dezennien breitete sich in vor- und zurückflutenden Schüben die Sorge aus, daß die moderne Lohnarbeitsgesellschaft ihren Scheitelpunkt
     überschritten habe und wieder werden könnte, was sie zu Anfang war – eine soziale Megamaschine existentieller Angst und Verunsicherung.
     Man sann auf Lösungen und besann sich dabei einer Idee, die im Ansatz schon die Französische Revolution geboren und in noch
     tastende Formulierungen eines »Rechts auf Leben« gekleidet hatte. Überblickt man den Diskurs von heute aus, gewinnt man schnell
     den Eindruck, daß alles Wesentliche zu diesem Thema bereits vor Jahrzehnten zum Ausdruck gelangte und es eigentlich nur an
     einem fehlte: an der Entschlossenheit, die Dinge nicht nur beim Namen zu nennen, sondern auch beim Schopf zu packen. Zur Debatte
     im Geburtsland der sozialen Menschenrechte, in Frankreich, wurde schon einiges gesagt (§ 8; § 10); der deutsche Debattenstrang
     griff die Anregung auf und kam umgehend zur Sache.
    2. »Alle reden von der Arbeitslosigkeit. Man kann es verstehen.« Mit diesen Worten begann Ralf Dahrendorf im Jahr 1982 seinen
     Vortrag auf dem 21. Deutschen Soziologentag. 102 Er verband sie mit einer klaren Einsicht in die Unumkehrbarkeit des Prozesses, in die historische Zäsur und in die Widerstände,
     ihr gemäß zu handeln, politisch umzusteuern. »Es liegt vor allem daran, daß Arbeit zumindest auch ein Herrschaftsinstrument
     ist. Wenn sie ausgeht, verlieren die Herren der Arbeitsgesellschaft das Fundament ihrer Macht.« 103 So |113| unerschrocken sprach man damals noch. Vertröstungen, daß das Erwerbssystem nur eine Staupe durchliefe und sich absehbar konsolidiere,
     ließ Dahrendorf nicht gelten. Die Krise der Arbeitsgesellschaft sei nicht konjunktureller, sondern struktureller Art; zur
     Disposition stünde die Gesellschaftsstruktur, die auf berufsmäßigem Erwerb als

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