Buerger, ohne Arbeit
unterschätzen. Sammeln wir also weiter GEGENGIFTE.
5. Ob der subjektive Bedeutungsverfall der Erwerbsarbeit zu diesen Pharmaka gehört, muß als fraglich gelten, aus schon erörterten
Gründen (§ 10.2) sowie aus hinzukommenden. In Deutschland griff Claus Offe das Argument vom äußerlich, instrumentell gewordenen
Verhältnis zur Arbeit frühzeitig auf. Die fortschreitende Fragmentierung der Arbeitswelt untergrabe die gemeinschaftliche
Bezugnahme aller Arbeitenden auf »Arbeit« als Schlüsselbegriff des Lebens und der Lebensführung. Es gebe Berufe mit hohem
und solche mit geringem Identifizierungspotential und dazwischen ein breites Mittelfeld, in dem sich das Verhältnis zur Arbeit
weder besonders innig noch übermäßig distanziert gestalte. Das einzige, was alle Arbeitssituationen miteinander verbinde –
der überwältigende Rückgang der Arbeitszeit gemessen an der Lebenszeit –, löse das Dasein nur weiter von der Arbeit ab, auch
das der Arbeiterelite, schwäche die Arbeit in ihrer Funktion, soziale Matrix des menschlichen Lebens und der menschlichen
Praxis zu sein. Eine »Remoralisierung« der Einstellung zur Arbeit sei künftig ebensowenig zu erwarten wie eine »Re-Individualisierung«
der Arbeitsverhältnisse. |118| »Denn eine solche, im Ernst zu den Mitteln der ›Eigenverantwortung‹ und der ›Marktregulierung‹ greifende Radikalkur würde
ja auf schwer zu kalkulierende und möglicherweise dramatische Weise jenen relativen Frieden der Arbeitsgesellschaft gefährden,
der historisch nur durch die staatliche Garantie kollektivierter Verteilungs- und Sicherungssysteme erkauft werden konnte.« 105
Es ist anders gekommen, so, wie es sich Offe zu Beginn der achtziger Jahre weder vorstellen konnte noch mochte. Das Argument
des »sozialen Friedens« verlor seinen rhetorischen Glanz, assoziierte sich mit »Friedhofsruhe« und »gesellschaftlichem Stillstand«.
Die Regierenden und ökonomisch Mächtigen fühlen sich nicht länger an die Friedenspflicht gebunden und proben den Aufstand
gegen die »Konsensgesellschaft«. Ein Aufstand von oben, inspiriert und angetrieben vom Appetit der Satten. Unter dem Schlachtruf
»Wir vertragen noch ein Kalb!« richtet er sich geradezu lüstern gegen die kollektiven Garantien des Arbeitsverhältnisses.
Den Vertrag bis auf jene Ebene herunterzubrechen, auf der sich nur mehr Individuen begegnen und miteinander kontrahieren,
hier der Unternehmer, dort der Arbeitssuchende, ist das Ziel des Angriffs. Je näher das Ziel rückt, desto unabweisbarer werden
die vom Erwerb Abhängigen wieder eins mit ihrem Arbeitsvermögen, zum Verkäufer desselben. In dieser Eigenschaft müssen sie
glaubhaft versichern, daß es ihnen Ernst ist mit der Arbeit, bitterernst. Gesten der Entspanntheit oder gar der Neutralität
dementieren diese Versicherung und unterbleiben daher tunlichst. Je individueller und sozial unausgewogener das Arbeitsverhältnis
konstruiert ist, desto herrschsüchtiger nötigt es sich jenen auf, die ins Verhältnis kommen wollen, kommen müssen. Die »neue
Moral« der Arbeitnehmer erwächst aus der Unterwerfung unter zynische Umstände.
6. Sie erfaßt alle Fraktionen der heutigen Arbeitnehmerschaft, breitet sich aber nicht gleichmäßig über sie aus. Für die privilegierten
Gruppen bleibt das ironische Spiel mit dem |119| Arbeitsglauben eine Möglichkeit. Schwer ersetzbar, identifizieren sie sich oftmals stärker mit ihrem Arbeitsvermögen als mit
ihrem Arbeitsplatz, mit ihrer Stelle. Sie aufzugeben bereitet ihnen unter Umständen weniger Kopfzerbrechen als dem Unternehmer,
der um gleichwertigen Ersatz verlegen ist. Sofern sie an die Arbeit glauben, glauben sie an sich, an ihre Fähigkeiten, und
ihre Moral ist die Moral aller »Aristokraten« – selbst auferlegte Verpflichtung, die von äußerem Zwang nichts hören will.
Für die Unterprivilegierten ist diese noble Selbstverkennung unerschwinglich. Mit banaler Arbeit befaßt und fast jederzeit
ersetzbar, fehlt ihnen zur überzeugenden moralischen Performance eigentlich nur eines: der geringste Anhaltspunkt für den
Zusammenhang DIESER Arbeit mit ihrem Lebensziel. Den Ernst überzeugend darzustellen, der ihnen abverlangt wird, fällt ihnen
dennoch nicht zu schwer. Führt der Job das Leben nicht ins Ziel, so sichert er doch allemal das bloße Leben; da KANN man gläubig
werden, auch ohne Überzeugung. Der eigentliche Nährboden der neuen Arbeitsmoral liegt in der
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