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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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billigen Arbeit großzügig einlud. Was der Brotherr seinen Arbeitskräften schuldig blieb, wurde in staatlicher Regie zum Minimum
     aufgestockt. Die Arbeiter mit Brosamen abzufinden war unter diesen Umständen ein Gebot unternehmerischer Klugheit. Klug, vernünftig
     war es ferner, vorzugsweise Personen mit einem Anspruch auf staatliche Unterstützung einzustellen; statt ihr Leben von der
     Arbeit zu erwarten, brachten sie es immer schon mit. Fand sich im Betrieb keine Verwendung für diese »guten« Armen, konnte
     man sie im Haus gebrauchen, und waren sie selbst dort entbehrlich, stellt man sie pro forma an. Wer sich zu dieser humanitären
     Geste verstand, erhielt einen Teil seiner Steuern zurückerstattet. Da alle Besitzenden die Fonds privat zu schröpfen gedachten,
     die sie gemeinsam unterhielten, kam es zu einer »Überfüllung von Küche und Hof« und in der Folge zu einer Finanzierungskrise
     des ganzen Systems. Erkennt man die Parallelen zum neoliberalen Programm der |137| »Vollbeschäftigung« hier und heute? Zum Traum von der Gratisarbeit, finanziert aus öffentlichen Mitteln?
    Aus der Sicht der potentiellen Empfänger bedeutete das Minimum Sicherheitsversprechen, aufgenötigten Parasitismus und Freiheitsberaubung
     in einem. Wer noch ein winziges Stück Boden oder sonst etwas besaß, von dem er zehren konnte, fiel aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten
     heraus. Die daraus resultierende Klugheitsregel der Armen war irrational wie die der Begüterten und verlangte, alles von sich
     abzutun, was auch nur von fern nach Selbständigkeit aussah. Aller irdischen Güter entblößt, von jeglicher Nahrungsquelle abgeschnitten,
     lebte man ebenso gut, eher besser, als wenn man auf die eigene Kraft vertraute; lieber ein höriger Lakai als ein vogelfreier
     Prolet. Da der Abfluß aus produktiven Arbeitsverhältnissen in unproduktive sowie die Flucht in Scheinbeschäftigung in großem
     Maßstab erfolgte, der schrumpfende erste Arbeitsmarkt mehr und mehr auf Subventionen setzte, wurde die Not weniger gelindert
     und schon gar nicht überwunden, sondern vielmehr verallgemeinert. Die Quellen des materiellen Reichtums versiegten, die Produktivität
     sank, und noch stärker sanken die Löhne, Steuern wurden ihres Zwecks entfremdet, und das Mindesteinkommen folgte der allgemeinen
     Abwärtsbewegung, wurde sukzessive nach unten korrigiert. – Was vom Zuschußsystem übrig blieb, war sein paternalistischer Kern,
     die gesetzliche Unterbindung individueller Bewegungsfreiheit, das Assoziationsverbot, die lebenslange Fesselung an die Gemeinde,
     die demütigende und verhaßte Sprengelleibeigenschaft. Das Minimum verhinderte die massenhafte Proletarisierung der englischen
     Landbevölkerung, indem es sie der schleichenden Pauperisierung unterwarf. Niemand mußte verhungern, aber niemand wußte einen
     Weg, der dauerhaft aus dem Hunger herausführte. Die Zukunft wurde zur Geisel einer Gegenwart, die keine Gruppe zufriedenstellte
     und jeden einzelnen beschämte.
    Im England des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts verlor der Arme sein Recht auf Unterhalt, sofern er über |138| eigene Existenzquellen verfügte oder den Ort verließ, dem er gehörte. Folgerichtig blieb er, wo er war, und übte sich in demonstrativen
     Gebärden der Verelendung. Zweihundert Jahre später wird der Arme in Deutschland diese soziale Gebärdensprache noch immer beherrschen
     lernen müssen. Die Seßhaftigkeit wird man ihm indessen ausgetrieben haben. Weigert er sich, wie ein Nomade der Arbeit hinterherzuziehen,
     büßt er die Unterstützung ein. Wie das englische Landvolk der Gemeinde gehörte, unentrinnbar, so gehören die heutigen Arbeitslosen
     dem Arbeitsmarkt: mobil gemachte Gefangene, Hörige am Laufband.
    3. Das langfristige Erbe von Speenhamland bestand in der Diskreditierung des Rechts auf Leben. Als »gesetzliche Nächstenliebe«
     verspottet, als monströser, vernunftwidriger Versuch verlacht, das Los der Armen auf dem Verordnungsweg zu bessern, wurde
     es zum stärksten Argument des
laissez faire
. Selbst Alexis de Tocqueville, einer der hellsichtigsten Köpfe seiner Zeit, spannte seine Sprachgewalt in den Dienst des
     Klassendünkels; Liberalismus verpflichtet. Er gab sich »zutiefst davon überzeugt, daß das gesamte, dauerhafte administrative
     System, dessen Ziel in der Linderung der Not der Armen bestehen wird, noch mehr Elend hervorbringt als es kurieren kann; daß
     es die Bevölkerung, die es unterstützen und trösten will,

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