Buerger, ohne Arbeit
billigen Arbeit großzügig einlud. Was der Brotherr seinen Arbeitskräften schuldig blieb, wurde in staatlicher Regie zum Minimum
aufgestockt. Die Arbeiter mit Brosamen abzufinden war unter diesen Umständen ein Gebot unternehmerischer Klugheit. Klug, vernünftig
war es ferner, vorzugsweise Personen mit einem Anspruch auf staatliche Unterstützung einzustellen; statt ihr Leben von der
Arbeit zu erwarten, brachten sie es immer schon mit. Fand sich im Betrieb keine Verwendung für diese »guten« Armen, konnte
man sie im Haus gebrauchen, und waren sie selbst dort entbehrlich, stellt man sie pro forma an. Wer sich zu dieser humanitären
Geste verstand, erhielt einen Teil seiner Steuern zurückerstattet. Da alle Besitzenden die Fonds privat zu schröpfen gedachten,
die sie gemeinsam unterhielten, kam es zu einer »Überfüllung von Küche und Hof« und in der Folge zu einer Finanzierungskrise
des ganzen Systems. Erkennt man die Parallelen zum neoliberalen Programm der |137| »Vollbeschäftigung« hier und heute? Zum Traum von der Gratisarbeit, finanziert aus öffentlichen Mitteln?
Aus der Sicht der potentiellen Empfänger bedeutete das Minimum Sicherheitsversprechen, aufgenötigten Parasitismus und Freiheitsberaubung
in einem. Wer noch ein winziges Stück Boden oder sonst etwas besaß, von dem er zehren konnte, fiel aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten
heraus. Die daraus resultierende Klugheitsregel der Armen war irrational wie die der Begüterten und verlangte, alles von sich
abzutun, was auch nur von fern nach Selbständigkeit aussah. Aller irdischen Güter entblößt, von jeglicher Nahrungsquelle abgeschnitten,
lebte man ebenso gut, eher besser, als wenn man auf die eigene Kraft vertraute; lieber ein höriger Lakai als ein vogelfreier
Prolet. Da der Abfluß aus produktiven Arbeitsverhältnissen in unproduktive sowie die Flucht in Scheinbeschäftigung in großem
Maßstab erfolgte, der schrumpfende erste Arbeitsmarkt mehr und mehr auf Subventionen setzte, wurde die Not weniger gelindert
und schon gar nicht überwunden, sondern vielmehr verallgemeinert. Die Quellen des materiellen Reichtums versiegten, die Produktivität
sank, und noch stärker sanken die Löhne, Steuern wurden ihres Zwecks entfremdet, und das Mindesteinkommen folgte der allgemeinen
Abwärtsbewegung, wurde sukzessive nach unten korrigiert. – Was vom Zuschußsystem übrig blieb, war sein paternalistischer Kern,
die gesetzliche Unterbindung individueller Bewegungsfreiheit, das Assoziationsverbot, die lebenslange Fesselung an die Gemeinde,
die demütigende und verhaßte Sprengelleibeigenschaft. Das Minimum verhinderte die massenhafte Proletarisierung der englischen
Landbevölkerung, indem es sie der schleichenden Pauperisierung unterwarf. Niemand mußte verhungern, aber niemand wußte einen
Weg, der dauerhaft aus dem Hunger herausführte. Die Zukunft wurde zur Geisel einer Gegenwart, die keine Gruppe zufriedenstellte
und jeden einzelnen beschämte.
Im England des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts verlor der Arme sein Recht auf Unterhalt, sofern er über |138| eigene Existenzquellen verfügte oder den Ort verließ, dem er gehörte. Folgerichtig blieb er, wo er war, und übte sich in demonstrativen
Gebärden der Verelendung. Zweihundert Jahre später wird der Arme in Deutschland diese soziale Gebärdensprache noch immer beherrschen
lernen müssen. Die Seßhaftigkeit wird man ihm indessen ausgetrieben haben. Weigert er sich, wie ein Nomade der Arbeit hinterherzuziehen,
büßt er die Unterstützung ein. Wie das englische Landvolk der Gemeinde gehörte, unentrinnbar, so gehören die heutigen Arbeitslosen
dem Arbeitsmarkt: mobil gemachte Gefangene, Hörige am Laufband.
3. Das langfristige Erbe von Speenhamland bestand in der Diskreditierung des Rechts auf Leben. Als »gesetzliche Nächstenliebe«
verspottet, als monströser, vernunftwidriger Versuch verlacht, das Los der Armen auf dem Verordnungsweg zu bessern, wurde
es zum stärksten Argument des
laissez faire
. Selbst Alexis de Tocqueville, einer der hellsichtigsten Köpfe seiner Zeit, spannte seine Sprachgewalt in den Dienst des
Klassendünkels; Liberalismus verpflichtet. Er gab sich »zutiefst davon überzeugt, daß das gesamte, dauerhafte administrative
System, dessen Ziel in der Linderung der Not der Armen bestehen wird, noch mehr Elend hervorbringt als es kurieren kann; daß
es die Bevölkerung, die es unterstützen und trösten will,
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