Buerger, ohne Arbeit
Minimum hinzu, darf davon aber nur 200 Euro behalten, weise ich den Arbeitsherrn unfreiwillig
auf eine perfekte Methode zur Kostensenkung hin. Ersetzt er seine tariflich Beschäftigten sukzessive durch »Mindesteinkommer«,
realisiert er zusätzliche Rendite und zudem den Vorteil, künftig aus einem noch größeren Reservoir gefügiger Menschen schöpfen
zu können. Der Furcht ledig, daß die Arbeitsbesitzer ihre Stellen freiwillig aufgeben, wird er seinerseits danach trachten,
sie aus ihnen herauszudrängen (a). Die Freigesetzten streben, der Not folgend, in den Arbeitsmarkt zurück und vermitteln den
Löhnen einen kräftigen Impuls zum Fallen (b). Auch die Bedrohung regulärer Beschäftigungsverhältnisse durch individuelle oder
kollektive Eigenarbeit (c) fällt in dieser Variante stärker ins Gewicht und verschärft die ohnehin mißliche Lage der Aktiven.
– Ein historischer Präzedenzfall verdeutlicht das Beschränkte, das letztlich Widersinnige dieser Art, dem menschlichen Dasein
Grund zu geben.
§ 16 »Gesetzliche Nächstenliebe« als allgemeines Unglück
1. Das »Recht auf Lebensunterhalt« ist kein Produkt der 1960er Jahre; seine Vorgeschichte reicht bis ins späte achtzehnte
Jahrhundert zurück. Sie spielt sich, von einer Ausnahme abgesehen, weitgehend auf der »theoretischen« Bühne |135| ab, in Form von Dekreten, Verkündigungen, von Versprechen, die schnell gegeben und noch schneller gebrochen werden. Die Ausnahme
datiert auf das Jahr 1795 und ging als Speenhamland-Act in die Annalen ein. In einer Zeit großer Not fanden sich die Friedensrichter
von Berkshire im Gasthof
Pelikan Inn
in Speenhamland bei Newbury zusammen und verfügten, »daß zusätzlich zu den Löhnen Zuschüsse bezahlt werden sollten, und zwar
nach einem gestaffelten, mit dem Brotpreis verbundenen Tarif, damit den Armen,
unabhängig von ihren Einkünften
, ein Minimaleinkommen garantiert werde. Die berühmte Empfehlung der Friedensrichter lautete folgendermaßen: Wenn ein Vierkilolaib
Brot von bestimmter Qualität 1 Shilling kostet, dann soll jeder arme und arbeitsame Mann zu seiner Unterstützung 3 Shilling
wöchentlich bekommen, die er sich entweder durch eigene Arbeit oder die seiner Familie erwirbt, oder
einen Zuschuss aus dem Armenfonds
, und für den Unterhalt seines Weibes und jedes weiteren Familienmitglieds 1 Shilling und 6 Pence; wenn der Brotlaib 1 Shilling
und 6 Pence kostet, dann 4 Shilling wöchentlich, plus 1 Shilling und 10 Pence; für jeden Pence, den der Brotpreis über 1 Shilling
steigt, soll er 3 Pence für sich und 1 Pence für die anderen erhalten.« 122 Diese erste negative Einkommenssteuer der Geschichte bedeutete eine Kampfansage an den freien Arbeitsmarkt, und das ausgerechnet
an der Wiege des modernen Kapitalismus! Als sie knapp vierzig Jahre später abgeschafft wurde, war das Prinzip arbeitsfreier
Daseinsführung nicht nur in dieser, sondern in jeglicher Gestalt in Verruf geraten.
Die Erinnerung an Speenhamland als gigantischem Fehlschlag vereinte markthörige Liberale mit entschiedenen Kritikern des Kapitalismus
und festigte das Bündnis von Arbeit und Einkommen nachdrücklicher als jede Moralpredigt. Für Fourier war der Act ein Kürzel
für das Siechtum und die erzwungene Faulheit der arbeitenden Klasse, 123 für Marx eine »lächerliche Anomalie« des frühen Industriekapitalismus; 124 Karl Polany, dem wir eine ausführliche Darstellung |136| verdanken, sah in dem Gesetz nicht weniger als eine Gefährdung des »Menschentums«. 125 Von den späteren Kommentatoren fand lediglich Robert Castel auch anerkennende Worte für die ausgefeilteste Sozialgesetzgebung
der damaligen Zeit. Sie habe der ländlichen Arbeitsbevölkerung eine Atempause beim Eintritt in die industrielle Ära verschafft,
die subjektive Anpassung an die neuen Erfordernisse zeitlich gestreckt und sozial gemildert, dies allerdings auf Kosten einer
unerträglichen und unhaltbaren Konservierung überlebter Herrschaftsverhältnisse. 126 Weshalb scheiterte die radikale Reform des Armenrechts derart spektakulär?
2. Unternehmer und Nationalökonomen verurteilten das Mindesteinkommen lautstark als schreienden Anachronismus, als einen ebenso
überflüssigen wie schädlichen Eingriff in Märkte, die soeben im Begriff standen, sich selbst zu regulieren. Insgeheim profitierten
sie von der interventionistischen Praxis, die faktisch als staatliche Lohnsubvention funktionierte und zu einer Politik der
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