Buerger, ohne Arbeit
Gemeinwesen und am Gemeinwohl.
Kapitalisten und Proletarier stiften kein Vaterland und keine bürgerliche Gemeinschaft.
2. Langfristig durchgesetzt haben sich weder die Übertreibungen des einen noch die Voraussagen des anderen. Der reiche Eigentümer
verlor sein Privileg als Bürger, der |141| Proletarier gewann sozialen Status, wurde – als Bürger – vom Vorhang eingefangen, vorübergehend, wie sich in naher Zukunft
zeigen könnte. Die »angeborene« Vaterlandsliebe der Mitte breitete sich auch unter Armen und Reichen aus und übersteigerte
sich in Krisenzeiten zu maßlosem Nationalismus. Im ganzen wurde der Arbeiter Bürger, der Eigentümer Arbeiter mit besonderem
Auftrag und das Bürgersein selbst zu einer politisch-juristischen Kategorie, zum Recht aller, Rechte zu haben. Der Begriff
der »Zivilgesellschaft« drückt diese Generalisierung von Bürgerlichkeit und Bürgerrolle zuverlässig aus.
Der springende Punkt UNSERER Zeit ist eine noch sehr viel weitergehende Generalisierung. Die kapitalistische Industriegesellschaft
benötigte mehr als ein Säkulum, um den Arbeiter ZUM Bürger zu emanzipieren; wieviel Zeit muß vergehen, um den nächsten Schritt
zu wagen, die Emanzipation des Bürgers VOM Arbeiter? Der Bürger in seiner zeitgenössischen Verfassung genießt fundamentale
individuelle und politische Rechte, und er genießt sie unbedingt. In seinen sozialen Rechten stößt er jedoch auf eine Bedingung
– auf sich als Arbeiter, auf die Arbeit als Nadelöhr existentieller Forderungen ans Gemeinwesen. Erst wenn dieses letzte Bedingungsverhältnis
aufgelöst ist, soziale Rechte BEDINGUNGSLOS gewährt werden, ist der Bürger endgültig als universelles Rechtssubjekt konstituiert.
Das Bürgergeld formuliert diesen utopischen Anspruch. SEIN Bürger ist weder
Bourgeois
noch
Citoyen
, weder das Verträge schließende noch das politisch engagierte Subjekt, vielmehr das ihnen Zugrundeliegende, SUBJECTUM, der
Mensch mit seinen vitalen Bedürfnissen, in seinem Angewiesensein und Bezogensein auf seinesgleichen.
3. Das Bürgergeld als Menschenrecht greift über den gewohnten bürgerlichen Horizont hinaus; es geht in einer Welt vor Anker,
die um Bedürftigkeit herum gebaut ist, nicht mehr um Äquivalenzen kreist. Es gründet den Menschen in dieser Welt, erkennt
ihn fraglos an und begnügt |142| sich mit einer Anspruchsbegründung
ad hominem
: Du bist in diese Welt hineingeboren – lebe in ihr frei von überflüssigen Ängsten. Es drängt sich einer ökonomischen Epoche
auf, die ihren materiellen Reichtum nicht länger nach der Zeit bemißt, die einzelne im Produktionsprozeß verbringen. »General
intellect«, angewandte Wissenschaft, kooperative Designs als maßgebliche Agenzien des Wohlstands der Nationen untergraben
Zurechen- und Meßbarkeit des individuellen Anteils am Gesamtprodukt. Wo soll man anfangen, wo aufhören, wenn es darum geht,
Anteile und Mitwirkungsrechte am Gesamten einzufordern? Ist der Grundschullehrer »produktiver Arbeiter«, weil er elementare
Voraussetzungen des Reproduktionsgeschehens schafft – gut gebildete Arbeitskräfte? Und der Arzt, der Rechtsgelehrte, der ehrenamtliche
Übungsleiter eines Sportvereins, Eltern als Eltern, Hausfrauen und Hausmänner – stehen nicht auch sie im weitläufigeren Zusammenhang
mit produktiver Arbeit? Der erweiterte Arbeitsbegriff (§ 12) – ist er nicht doch ein treffendes Resümee unübersichtlich gewordener
Produktionsverhältnisse? Das hängt von der Perspektive ab. Bekennt man sich zum Bürgergeld als bedingungsloser Grundsicherung,
sind diese Fragen hinfällig. Da jeder und jede sozial immer schon gegründet, in die Gesellschaft eingebettet ist, kann es
ihnen herzlich gleichgültig sein, ob man sie obendrein noch zu Arbeitenden ernennt, produktiven oder unproduktiven. Sie selbst
sind von dem Zwang entbunden, weil sie ihren das Leben sichernden Anteil am Gesamtprodukt nicht über diesen Umweg reklamieren
müssen. Das Bürgergeld korrigiert den schielenden Blick des Menschen auf sich selbst und befreit die Beziehungen zu anderen
Menschen von beziehungsfremden Rücksichten. Liebe bleibt Liebe, Zuwendung Zuwendung, soziales Engagement geschieht aus freiem
Entschluß, Freigebigkeit und Selbstlosigkeit kommen als verschämte Nahrungssuche nicht länger in Betracht. Erstmals in der
menschlichen Geschichte schieden sich die sozialen Sinne vom Sinn des Habens. 132
|143| 4. Genug der ungebundenen
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