Bugatti taucht auf
Es hatte ihn nicht im Geringsten interessiert.
Jordi erinnerte sich, wie er Umberto und Luca im letzten Sommer auf dem Gelände des Wassersportclubs begegnet war, als sie von einem Tauchgang zurückkehrten. Umberto hatte angefangen, von dem Autowrack zu erzählen.
»Würde es dir gefallen, so tief zu tauchen?«, wandte Jordi sich an Luca. Der Junge sah ihn an mit dem gleichgültigen Blick, der für Erwachsene bestimmt ist.
»Was sollte mir daran gefallen«, erwiderte er, nicht unhöflich, wenn auch ein wenig verdrossen.
»Baldi hat es entdeckt, die Tieftaucherin«, warf Umberto ein, »irgendwann in den Sechzigern, da war es noch nicht ganz so zugeschlammt.«
»Vielleicht ist es überhaupt kein Auto«, meinte Luca ungeduldig.
»Doch«, insistierte Umberto, »doch doch, Baldi hat es sogar fotografiert.«
Luca sah seinen Vater beinahe wütend an. »Ihr mit eurem Wrack, da ist doch nichts, ein paar Schrauben, die im Schlamm begraben sind; wahrscheinlich ein schrottiges Teil von einem Motor oder was weiß ich –.« Luca hob missmutig die Schultern und dann, in einem plötzlichen Ausbruch, »Mann, was für ein Scheiß, ein mickriger Rosthaufen im Dreck, stockdunkel ist es und saukalt, nein, es würde mir nicht gefallen, es ist einfach nur deprimierend, der Scheißsee ist ein Scheißgrab –.« Und Luca schritt, ohne sich noch einmal umzusehen, dem Vereinslokal zu.
Umberto hatte nachsichtig abgewunken und war ihm hinterhergegangen.
Als Jordi daran dachte, schloss er einen Moment die Augen. Die Verachtung des Jungen hatte ihn an Manuel, seinen jüngeren Bruder, erinnert; Manuel, dessen Leben jahrelang aus den Fugen geraten war und dem Jordi nicht hatte helfen können.
Vielleicht hatte Luca recht. Da war nichts. Ein Schrottteil, das irgendjemand über Bord geworfen hatte, sei es im Suff oder einfach, um es loszuwerden. Jordi musste kurz auflachen bei der Vorstellung, dass die Taucher jahrzehntelang zu einem alten Autorad pilgerten und es anstaunten, als wäre es ein seltenes Seetier oder der lang vermisste Schatz einer Piratenbande. Aber wann hatte es in Ascona schon mal Piraten gegeben, nie. Jordi dachte an Lucas Traurigkeit, wie unwirsch ihm der Junge begegnet war und wie er den See verabscheut hatte. Und Jordi beschloss, er würde es herausfinden. Er würde herausfinden, was da unten war, und wenn es ein Auto war, würde er es hochholen. Was er dann damit anfangen wollte? Jordi wusste es nicht, vielleicht würde man das Auto ausstellen können, eine Erinnerung schaffen an Luca. Es war eine seltsame Idee. Es war eine mehr als seltsame Idee. Etwas Verrückteres fiel ihm nicht ein.
6
In den wenigen Tagen, seit er wieder da war, hatten Jordi und Patrizia sich noch kaum gesehen. Patrizia lebte mit ihren zwei Töchtern, Karin und Ellen, in dem kleinen Ort Ronco nahe bei Ascona, auf der westlichen Seeseite, und Jordi hatte eine Wohnung im Ortsteil Losone.
Patrizia fand es angenehm, dass sie mit ihren beiden Kindern alleine leben konnte; sie wollte keine engen Bindungen mehr, kein Zusammenziehen, und sie wollte auch nicht jeden Tag Zeit mit Jordi verbringen müssen.
Die beiden kannten sich aus der Schulzeit; sie waren in ihrem Jahrgang die zwei Kinder mit den roten Haaren gewesen – wilde borstige bei Patrizia, feine dünne bei Jordi. Die Haarfarbe war so ziemlich das Einzige, das sie verband, im Übrigen machten sie sich gegenseitig das Leben so schwer wie möglich. Jordi, indem er Sekundenkleber auf ihrem Stuhl verteilte und sich freute, wenn ihr Kleid beim Aufstehen zerriss, oder wenn er vor Patrizias Augen ihren Schulranzen plünderte und versuchte, die Schreibhefte mit dem Feuerzeug anzuzünden. Im Gegenzug nahm Patrizia in der Turnstunde schnell wie ein Eichhörnchen eine Handvoll Sand aus der Weitsprungbahn und warf sie Jordi gezielt in die Augen. Dann, als Jordis Haare im Laufe der Pubertät vom Rötlichen ins Dunkelblonde wechselten, begann Patrizia mit Gerardo auszugehen, einem ekelhaften Angeber aus der Abiturklasse, der Mitglied in der Christlichdemokratischen Volkspartei war. Jordi verzieh ihr das nie. Später fing Patrizia an, Ökonomie in St. Gallen zu studieren, so wie es ihre Eltern vorgesehen hatten, und dort lernte sie einen gewissen Pierre kennen, den sie noch während des Studiums heiratete. Da hatte Jordi den Kontakt zu ihr schon verloren, er hörte nur, dass sie mit dem gewissen Pierre von St. Gallen nach Zürich, von Zürich nach Brüssel und von Brüssel nach Genf zog, dass sie zwei Kinder
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